Alex Cross 07 - Stunde der Rache
war nicht mehr flüssig. Hatten sie das Blut hier in der Kathedrale getrunken? Ging es um die Schändung des Gotteshauses? Religion? Die Stationen des Kreuzwegs?
Ich trat mit Kyle näher zu Stephen Fenton. Im Kirchenschiff lag bereits der Leichensack. Leute der Spurensicherung des Polizeidepartments Savannah standen daneben. Sie waren nervös und verärgert. Sie wollten ihre Arbeit abschließen und wegfahren, und wir hielten sie nur auf. Der örtliche Polizeiarzt untersuchte die Leiche.
Kyle und ich knieten nebeneinander bei der Leiche. Ich streifte Plastikhandschuhe über. Kyle benutzte sie fast nie. Er berührte äußerst selten etwas am Tatort. Ich habe mich immer gefragt, warum. Aber seine Instinkte arbeiteten hervorragend. Warum hatten wir keinen blassen Schimmer, wohin die Mörder geflohen waren und wo sie als Nächstes zuschlagen würden, wenn wir beide so gut waren? Diese Frage nagte bei jedem Tatort stärker an mir. Worum ging es bei dieser grausigen Mordserie?
»Sie sind so gottverdammt impulsiv«, sagte ich zu Kyle. »Ich vermute, sie sind unter dreißig. Vielleicht Anfang zwanzig oder noch jünger. Ich wäre nicht überrascht, wenn wir es mit Teenagern zu tun hätten.«
»Das ergibt für mich Sinn. Sie scheinen überhaupt keine Angst zu haben.« Kyle sprach ganz ruhig und betrachtete die Wunden des Studenten. »Es sieht aus, als hätte man ein wildes Tier losgelassen. Einen Tiger, zum Beispiel. Erst in Kalifornien, dann hier an der Ostküste. Das Problem ist, dass wir nicht wirklich wissen, wie weit die Mordserie zurückzuführen ist, oder wie viele Mörder beteiligt sind, nicht einmal, ob sie von diesem Bundesstaat ausgehend arbeiten.«
»Das sind drei Probleme. Drei Annahmen, die Antworten erfordern, die wir nicht haben. Deine Agenten befragen immer noch die Leute in den Vampir-Clubs? Was ist mit dem Internet? Irgendjemand muss doch etwas wissen!«
»Wenn jemand Bescheid weiß, behält er das für sich. Ich habe über hundert Agenten rund um die Uhr an diesem Fall, Alex. Diesen Aufwand können wir nicht lange durchhalten.« Ich schaute auf die Holztafel des Kreuzwegs. Darauf war die Kreuzabnahme abgebildet und wie Jesus seiner Mutter in die Arme gelegt wird. Die Dornenkrone. Die Kreuzigung. Die durchbohrten Gliedmaßen und das Herz. Blut. War Blut das Verbindungsglied? Ewiges Leben? Fragen über Fragen. In Santa Barbara hatte Peter Westin erwähnt, dass manche Vampire spirituell ausgerichtet seien. War das hier ein Ritualmord? Sollte ich noch mal mit Peter Weston sprechen? Er schien mehr über Vampire zu wissen als irgendein anderer, den ich kannte. Das Opfer trug Khakihosen und neue Reebok-Laufschuhe. Ich untersuchte die Wunden am Hals. Auch an seiner linken Schulter und am Oberkörper waren Bisswunden. Einer oder beide Mörder waren sehr wütend gewesen, vielleicht hatten sie völlig die Kontrolle verloren.
»Warum das Hemd mitnehmen?«, fragte Kyle. »Genau wie in Marin.«
»Vielleicht weil es mit Blut getränkt war«, antwortete ich und betrachtete weiterhin die Wunden des Studenten. »Es handelt sich eindeutig um Bisse von Menschen. Aber sie greifen
wie Raubtiere an. Vorbild ist der Tiger, ein Symbol, ein überaus wichtiger Faktor. Aber welcher?«
Kyles Handy klingelte. Ich musste unwillkürlich ans Superhirn denken – und seine häufigen Anrufe bei mir. Kyle hörte etwa zwanzig Minuten lang zu.
Dann blickte er mich an. »Wir brechen sofort nach Charlotte auf. Es hat einen weiteren Mord gegeben, Alex. Sie haben wieder zugeschlagen. Jetzt sind sie schon in North Carolina.« »Gottverdammt! Was, zum Teufel, tun sie?« Kyle und ich rannten zum Portal der Kathedrale. Wir rannten, als würden wir verfolgt.
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H in und wieder packt uns das Entsetzen bei einem besonders grausigen Mord oder einer Mordserie und erregt die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit in beinahe obszöner Weise. Jeffrey Dahmers bizarre Morde in Milwaukee; der Mord an Gianni Versace und die folgenden Morde von Andrew Philip Cunanan; der Russe Andrej Chikatilo, die schlimmste Bestie von allen. Und jetzt diese Blutspur an beiden Küsten der Vereinigten Staaten.
Glücklicherweise konnten wir den FBI-Hubschrauber für den Flug von Savannah rüber nach Charlotte benutzen. Während wir noch in der Luft waren, nahm Kyle Kontakt mit seinen Leuten unten auf. Sie hatten ein altes Farmhaus ungefähr vierzehn Meilen außerhalb von Charlotte umstellt. Ich hatte Kyle noch nie bei einem Fall so aufgeregt gesehen, nicht mal bei Casanova
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