Alex Cross 07 - Stunde der Rache
und sein Blut getrunken. Und dann das Blut über die weiß gestrichenen Bretter verteilen.
Nein. Nicht jetzt, noch nicht, nicht hier. O Gott, er hasste es, wenn er sich nicht verwirklichen konnte. Er wollte seine Macht
und seine Talente einsetzen.
Doch William ging weiter. Er musste seine gesamte Willenskraft aufbieten, um diesen appetitlichen Happen zu verlassen, der so verführerisch auf der Veranda saß.
Da rief das Mädchen ihm hinterher: »Warum die Zurückhaltung?« Dann lachte sie laut.
William lächelte und machte kehrt.
Er ging zurück zu dem Mädchen.
»Du hast ein Riesenglück«, sagte er. »Du bist auserwählt.«
70
I rgendwann mussten wir doch auch mal Glück haben. Um sieben Uhr morgens saß ich allein an einem Tisch vor dem Cafe Du Monde am Jackson Square. Ich aß Doughnuts mit Puderzucker und trank Kaffee, der mit Zichorie versetzt war. Ich starrte in Richtung der Türme der St.-Louis-Kathedrale. Vom Mississippi ertönten die Signale der Schiffe.
Es hätte ein wunderschöner Morgen sein können, wenn ich nicht so frustriert gewesen wäre – und so wütend, so voller Energie, die ich nicht einsetzen konnte.
Ich hatte viele üble Fälle erlebt, aber das hier war wohl am schwierigsten zu verstehen. Seit über elf Jahren wurden diese scheußlichen Morde begangen, aber sowohl das Muster als auch die Motivation der Mörder waren immer noch unklar. Sobald ich das FBI-Büro betreten hatte, hörte ich die schreckliche Nachricht, dass ein fünfzehnjähriges Mädchen vermisst wurde, das nur sechs Blocks von den Zauberern entfernt gelebt hatte. Möglich, dass sie nur weggelaufen war, doch das hielt ich für unwahrscheinlich. Aber bis jetzt wurde sie weniger als vierundzwanzig Stunden vermisst.
Eine Besprechung war angesetzt. Ich ging nach oben, um Näheres zu erfahren, auch, weshalb man mich nicht früher verständigt hatte. Als ich eintrat, spürte ich die Frustration bei allen Beamten, wohin ich auch schaute. Ein schlimmeres Resultat konnte man sich nicht vorstellen: Wir hatten die mutmaßlichen Mörder aufgespürt, aber uns waren die Hände gebunden. Und jetzt hatten sie möglicherweise direkt vor unserer Nase wieder ein Opfer umgebracht.
Ich setzte mich neben Jamilla. Beide hatten wir Becher mit heißem Kaffee und die Morgenausgabe der Times-Picayune vor uns. Von dem vermissten Mädchen stand nichts drin. Offenbar hatte die Polizei in New Orleans das Verschwinden bis heute Morgen unter Verschluss gehalten.
Kyle war so wütend, wie ich ihn selten gesehen hatte. Er war außer sich. Nervös strich er sich mit der rechten Hand durchs dunkle Haar, während er vor uns hin und her lief. Ich konnte es ihm nicht verübeln – die Ermittlungen hingen vollständig von der Zusammenarbeit zwischen der örtlichen Polizei und dem FBI ab. Dieses Vertrauen hatte die Polizei in New Orleans enttäuscht, tief enttäuscht.
»Diesmal kann ich Craigs Gefühle nachempfinden«, sagte Jamilla. »Das war eine Schlamperei der Hiesigen.«
»Wir könnten seit Stunden nach dem vermissten Mädchen suchen«, pflichtete ich ihr bei. »Was für eine Sauerei. Und es wird immer schlimmer.«
»Vielleicht ist das unsere Chance. Ich frage mich, ob es möglich wäre, heute Abend zu dieser Party ins Haus zu kommen. Was meinen Sie? Ich würde es zu gern versuchen«, flüsterte sie. »Alle, die zu diesem so genannten Fetisch-Ball gehen, kommen im Kostüm, richtig? Jemand muss zu diesem Fest gehen. Wir müssen etwas unternehmen.«
Kyle starrte Jamilla und mich an und hob die Stimme. »Wäre es möglich, dass wir nur eine Besprechung führen?«
»Er meint, seine Besprechung«, flüsterte sie. Ich fragte mich,
weshalb Jamilla Kyle nicht ausstehen konnte. Zugegeben, er benahm sich seltsam. Der Fall setzte ihm schwer zu. Irgendetwas machte ihn nervös.
»Sagen Sie ihm, was Sie denken«, sagte ich. »Er wird zuhören, besonders jetzt da das Mädchen vermisst wird.«
»Das bezweifle ich stark. Aber was kann er schon tun – mich rausschmeißen?«
Sie blickte Kyle an. »Meiner Meinung nach könnte es uns gelingen, heute Abend bei dem Fest ins Haus einzudringen. Und wenn's nicht klappt, haben wir nichts zu verlieren. Das vermisste Mädchen wird dort sein.«
Kyle zögerte, dann sagte er: »Gut, machen wir das. Schauen wir uns an, was im Haus ist.«
71
S o etwas konnte nur in New Orleans stattfinden. Ich verbrachte einen Teil des Nachmittags damit, uns gedruckte Eintrittskarten zu besorgen. Dann probierten Jamilla und ich unsere
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