Alex Cross 07 - Stunde der Rache
näher. »Was für ein Jammer«, flüsterte ich. Ein Men
schenleben ausgelöscht – einfach so. Wieder ein Polizist tot. Ich schaute Mitchell Sams an. Er wartete, bis ich etwas sagte. »Das könnten andere Mörder gewesen sein«, sagte ich und schüttelte den Kopf. »Die Bisswunden sehen meiner Meinung nach anders aus. Sie sind oberflächlich. Etwas ist anders.« Ich trat von der Leiche Maureen Cookes zurück und schaute mich in ihrem Schlafzimmer um. Da waren Fotos, die ich kannte. Sie gehörten zu E. J. Bellocqs Studien von Prostituierten in Storyville. Seltsam, aber irgendwie passend für jemand, der bei der Sitte arbeitete. Über dem Bett, in dem sie offensichtlich geschlafen hatte, hingen asiatische Fächer. Aber vielleicht hatte sie das Bett gestern nicht gemacht.
Mein Handy klingelte, und ich drückte auf einen Knopf. Ich fühlte mich wie betäubt. Ich brauchte Schlaf.
»Haben Sie sie schon gefunden, Dr. Cross? Was denken Sie? Verraten Sie mir, wie man Ihrer Meinung nach diese grauenvollen Morde beenden kann. Inzwischen müsste Ihnen doch eine Möglichkeit eingefallen sein.« Superhirn! Wieso wusste er Bescheid?
Plötzlich brüllte ich ins Telefon. »Ich werde dich kriegen. Das weiß ich mit Sicherheit, Arschloch!«
Ich schaltete aus. Dann sah ich Kyle. Er beobachtete mich
von der Türschwelle aus.
»Alles in Ordnung, Alex?«, fragte er.
79
A ls ich ins Dauphine Hotel zurückkam, war es halb elf Uhr vormittags. Ich war zu müde und zu überdreht, um schlafen zu können. Mein Herz pochte immer noch wie verrückt. Eine Nachricht wartete auf mich: Inspector Hughes hatte aus San
Francisco angerufen.
Ich legte mich aufs Bett, rief Jamilla zurück und schloss die Augen. Ich sehnte mich danach, eine freundliche Stimme zu hören, besonders ihre.
»Vielleicht habe ich ein Bonbon für Sie«, sagte sie. Sie war zu Hause. »In meiner unermesslichen Freizeit – ha-ha – habe ich mir Santa Cruz näher angesehen. Warum Santa Cruz, könnten Sie fragen. Dort gab es etliche ungelöste Vermisstenfälle. Zu viele. Ich habe selbst alle durchgeackert. Alex, da unten geht was vor, was nicht in Ordnung ist. Es passt ins Bild unseres Falls.«
»Santa Cruz stand auf unserer ursprünglichen Liste«, sagte ich. Ich bemühte mich, zu begreifen, was Jamilla mir soeben erzählt hatte. Ich konnte mich nicht mal erinnern, wo Santa Cruz genau lag.
»Sie klingen müde. Geht's Ihnen gut?«, fragte sie.
»Ich bin erst vor ein paar Minuten zurück ins Hotel gekommen. Eine lange Nacht.«
»Alex, gehen Sie schlafen ! Das kann warten. Gute Nacht!«
»Nein, ich kann sowieso nicht schlafen. Erzählen Sie mir von Santa Cruz. Das will ich unbedingt hören.«
»Na gut. Ich habe mit Lieutenant Conover von der Polizei in Santa Cruz gesprochen. Interessante Unterhaltung, und ziemlich ärgerlich. Selbstverständlich haben sie Kenntnis von dem Verschwinden der Menschen. Im vergangenen Jahr sind auch Haustiere und Vieh verschwunden. In dieser Gegend gibt es viele Ranchen. Natürlich glaubt niemand an Vampire. Aber – Santa Cruz hat einen gewissen Ruf. Die Jugendlichen nennen es die Vampir-Hauptstadt der USA. Und ab und zu haben die Kids Recht.«
»Ich muss mir ansehen, was Sie bis jetzt haben«, erklärte ich ihr. »Ich werde versuchen, ein bisschen zu schlafen, aber ich will unbedingt lesen, was Santa Cruz Ihnen schickt. Können Sie mir Kopien zukommmen lassen?«
»Mein Freund Tim beim Examiner hat mir versprochen, die relevanten Unterlagen zu schicken. Im Übrigen habe ich heute meinen freien Tag. Da kann ich leicht eine kleine Spritztour machen.«
Ich riss die Augen auf. »Wenn Sie das tun, nehmen Sie jemanden mit. Diesen Tim, meine ich.« Ich berichtete ihr von dem Mord an der Kollegin von der Sitte, Maureen Cooke. »Bitte, fahren Sie nicht allein hin. Wir haben immer noch keine Ahnung, mit wem wir es zu tun haben.«
»Ich nehme jemanden mit«, versprach sie, aber ich war nicht sicher, ob ich ihr glauben konnte.
»Jamilla, seien Sie vorsichtig. Ich habe ein ungutes Gefühl bei dieser Sache.«
»Sie sind bloß müde. Schlafen Sie erst mal. Ich bin ein großes Mädchen.«
Wir unterhielten uns noch ein Weilchen, aber ich war nicht sicher, ob ich zu ihr durchgedrungen war. Wie die meisten guten Detectives beim Morddezernat war sie sehr stur.
Ich schloss die Augen und ließ mich treiben. Und dann schlief ich ein.
80
J amilla erinnerte sich an eine Zeile aus einem ihrer Lieblingsromane von Shirley Jackson, The Haunting of Hill
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