Alex Cross 07 - Stunde der Rache
Knebel.
»Sie sind doch hergekommen, um den Sire zu suchen«, flüsterte William. Sein Gesicht war direkt neben ihrem. »Sie haben einen schrecklichen Fehler begangen, Inspector. Der wird
Sie das Leben kosten.«
Er lächelte. Sie hatte das eigenartige Gefühl, als würde sie gleichzeitig ausgelacht und verführt. Derjenige, der sich Michael nannte, berührte mit seinen langen schlanken Fingern ihre Wange. Zart strich er über ihre Kehle und blickte ihr tief in die Augen.
Sie ekelte sich und wollte weglaufen, aber sie war wehrlos. Über ein Dutzend Vampire waren da und betrachteten sie wie einen Braten am Spieß.
»Ich weiß nichts über einen Sire«, erklärte sie. »Was ist ein Sire? Helfen Sie mir.«
Die Brüder schauten einander an und lächelten viel sagend. Einige andere lachten laut.
»Der Sire ist einer, der führt«, antwortete William. Er war
ruhig, unverschämt selbstsicher.
»Wen führt der Sire?«, fragte sie weiter.
»Na, jeden, der ihm folgen will«, erklärte William. Wieder lachte er. Er schien sich auf ihre Kosten köstlich zu amüsieren. »Vampire, Inspector, wie Michael und ich. Und viele andere in vielen, vielen Städten. Sie können sich die Anzahl gar nicht vorstellen. Der Sire bestimmt mit einfachen Anweisungen, was man denkt, was man tut und solche Dinge. Der Sire ist niemandem Rechenschaft schuldig, auch nicht der Obrigkeit. Der Sire ist ein höheres Wesen. Beginnen Sie, zu begreifen? Möchten Sie den Sire kennen lernen?«
»Ist der Sire jetzt hier?«, fragte sie. »Wo sind wir?«
William starrte auf sie hinab. Er war wirklich ungemein verführerisch. Ekelhaft. Dann kam er näher. »Sie sind Detective! Ist der Sire hier? Wo sind Sie? Sagen Sie mir das.«
Jamilla hatte das Gefühl, sich übergeben zu müssen. Sie brauchte Luft zum Atmen.
»Weshalb sind wir hier?«, fragte sie. Sie wollte, dass die Brüder weiterredeten. Sie wollte sie solange wie möglich beschäftigen.
William zuckte die Schultern. »Ach, wir waren schon immer hier. Das war früher eine Kommune – Hippies mit dem kalifornischen Traum, bewusstseinserweiternde Drogen, Musik von Joni Mitchell. Unsere Eltern waren Hippies. Wir waren von jeglicher anderer Lebensart abgeschirmt, deshalb haben wir uns nur aufeinander verlassen. Mein Bruder und ich stehen uns unglaublich nahe. Aber eigentlich sind wir nichts. Wir sind hier, um dem Sire zu dienen.«
»War der Sire immer in dieser Kommune?«, fragte sie.
William schüttelte den Kopf. Seine Miene wurde ernst. »Es gab hier immer Vampire. Aber sie hielten sich von den anderen fern. Man musste sie aufsuchen, nicht andersrum.« »Wie viele sind hier?«
William schaute Michael an. Beide lachten. »Legionen! Wir sind allgegenwärtig.«
Plötzlich stieß William einen Schrei aus und senkte blitzschnell den Kopf. Unwillkürlich schrie Jamilla auf.
Nur einen Fingerbreit vor ihrem Hals hielt William inne und fauchte wie eine Raubkatze. Dann aber fing er an zu schnurren und leckte ihr die Wange, die Lippen, die Lider. Sie vermochte es nicht zu begreifen, was geschah.
»Wir werden dich aufhängen und bis zum letzten Tropfen austrinken. Und am erstaunlichsten ist, dass du es genießen wirst, zu sterben. Es ist Ekstase pur, Jamilla.«
83
I ch war nach Washington zurückgekehrt und nahm mir einen Tag frei, was ich dringend nötig hatte. Warum nicht? Ich hatte die Kinder in letzter Zeit nur selten gesehen, und schließlich war es Samstag.
Damon, Jannie und ich gingen am Nachmittag zur Corcoran Gallery of Art. Anfangs wehrten sich die kleinen Biester gegen den Museumsbesuch, aber sobald sie den Palast des Goldes und Lichts betreten hatten, waren sie vollkommen verzaubert. Danach wollten sie nicht mehr gehen. Typisch für sie. Als wir endlich gegen vier Uhr heimkamen, sagte Nana, ich solle Tim Bradley vom San Francisco Examiner anrufen. Nein, habt Erbarmen! Dieser Fall ließ mich nicht los. Jetzt sollte ich Jamillas Busenfreund anrufen.
»Es ist wichtig, dass du anrufst. Das hat er gesagt«, erklärte Nana. Sie backte zwei Kirschkuchen, um mir vor Augen zu führen, wie schön es zu Hause war.
In Kalifornien war es ein Uhr. Ich rief Tim Bradley im Büro
an. Er meldete sich sofort. »Bradley.«
»Hier Detective Alex Cross.«
»Hallo, ich habe gehofft, dass Sie anrufen. Ich bin ein Freund von Jamilla Hughes.«
Das wusste ich bereits. Ich unterbrach ihn. »Geht's ihr gut?« »Weshalb fragen Sie, Detective? Gestern ist sie nach Santa Cruz gefahren. Haben Sie das
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