Alex Cross 07 - Stunde der Rache
erzählen.
Vermutlich würde er das gleich tun.
85
» I ch glaube, jetzt sind wir am Ziel unserer Bemühungen«, sagte Kyle, als ich zu ihm ging. Wir schüttelten uns die Hände, ein altes Ritual, das Kyles Förmlichkeit widerspiegelte. Er sah ruhiger aus als in der vergangenen Woche. »Ich will dir etwas
zeigen«, sagte er. »Komm mit.«
Ich folgte Kyle an dem Bretterzaun entlang zu einem kaputten Tor. Er zeigte mir ein blasses Bild. Körper und Kopf eines Tigers waren darauf eingebrannt. Wir waren in der Behausung des Tigers angekommen.
»Die Gruppe drinnen scheint von dem Sire angeführt zu werden, dem neuen und fortschrittlicheren, vermute ich. Wir waren nicht im Stande, die Identität des Führers eindeutig herauszufinden. Alex, der vorige Sire war der Zauberer Daniel Erickson. Zwei Mitglieder der Gruppe sind gerade von einer Reise zurückgekommen. Sie waren in New Orleans. Langsam passen die Stücke des Puzzles zusammen.«
Ich schaute Kyle an und schüttelte den Kopf. »Wie hast du das alles herausgefunden? Wann bist du angekommen, Kyle?« Wie viel hast du vor mir geheim gehalten – und warum? »Die Polizei in Santa Cruz hat uns verständigt, da bin ich sofort rausgekommen. Sie haben einen dieser ›Untoten‹ erwischt, als der kleine Mistkerl die Ranch verließ. Er hat die Highschool abgebrochen und war nicht so engagiert wie die anderen. Er hat uns alles gesagt, was er wusste.« »Ist der Sire jetzt dort?«
»Vermutlich. Der Rotzjunge hat den Sire nie gesehen. Er gehört nicht zum inneren Zirkel. Aber die beiden Mitglieder, die in New Orleans waren, sind da. Er hat gehört, dass sie Daniel und Charles umgebracht hätten. Laut seiner Aussage sind diese beiden totale Psychopathen.«
Das glaube ich ihm aufs Wort.« Ich blickte durch die Zweige der Pinien und Zypressen zur Ranch hinunter. »Was ist mit Jamilla Hughes?«
»Wir haben ihren Wagen in der Stadt gefunden, Alex. Aber von ihr keine Spur. Der Bursche, den wir verhört haben, wusste auch nichts. Er meinte nur, gestern Nacht sei es auf der Ranch irgendwie heftig zugegangen. Er schlief zusammen mit einigen jüngeren Irren. Er meinte, es sei jemand unbefugt eingedrungen. Es hätte die Polizei sein können. Aber dann sei es schnell wieder still gewesen. Es gibt keine Beweise, dass sie dort ist.« »Kann ich mit ihm reden, Kyle?«
Kyle schaute weg. Offensichtlich wollte er mir nicht antworten. »Die Polizei in Santa Cruz hat ihn mitgenommen. Ich nehme an, du kannst mit ihm reden, Alex. Aber ich habe ihn bereits befragt. Der androgyne, kleine Scheißkerl hatte Angst vor mir. Kannst du dir das vorstellen?«
Kyle benahm sich eigenartig, aber dann rief ich mir ins Gedächtnis zurück, dass er mehr als jeder andere FBI-Mann oder Polizist über geistig gestörte Kriminelle wusste, oder irgendein anderer, den ich kannte. Die Beamten, die unter ihm arbeiteten, waren sicher, dass er eines Tages das Büro leiten würde. Aber ich war nicht sicher, ob Kyle je im Stande sein würde, keinen Außendienst mehr zu machen.
»Ich weiß, dass du dir wegen Inspector Hughes Sorgen machst. Eigentlich könnten wir gleich zugreifen, aber ich halte es für besser, erst um Mitternacht zuzuschlagen, Alex. Oder gegen Sonnenaufgang. Wir sind doch gar nicht sicher, dass sie da unten ist.«
Kyle machte eine Pause. Seine Augen glitten zu dem Ranchhaus in der Ferne. »Ich möchte herausfinden, ob sie im Rudel jagen. Es gibt Fragen, auf die wir Antworten haben müssen. Welche Motive haben diese Irren? Was bringt sie zum Ticken? Ich möchte ganz sichergehen, dass wir den Sire diesmal schnappen.«
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E s war eine lange, kalte Nacht in den Bergen außerhalb von Santa Cruz. Die Warterei war quälend für mich. Ich wollte, dass alles vorbei wäre. Inzwischen hatten wir noch etwas Interessantes erfahren: Die Rechtsanwältin, die im Mill Valley ermordet worden war, war an dem Prozess über den Kauf des Besitzes beteiligt. Wahrscheinlich hatte man sie und ihren Mann deshalb aufgehängt.
Zwischen den Felsen liegend, beobachtete ich die Ranch durch den Feldstecher. Ich schaute und schaute, bis meine Augen schmerzten. Um elf Uhr abends war immer noch niemand weggefahren. Ich sah auch keinen Wachposten. Die Leute da unten waren entweder verrückt oder übermäßig selbstsicher. Oder unschuldig. Vielleicht war das hier wieder ein Irrweg. Ich gab mir Mühe, mir keine Sorgen um Jamilla zu machen, aber vergebens. Ich vermochte den Gedanken nicht zu ertragen, dass sie womöglich tot war.
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