Alex Delaware 25 - Tödliche Lektion
auf einen Beistelltisch. Der Kaffee schwappte über, das Holz dröhnte. Sie starrte auf den Fleck. »Er hat sie misshandelt, nicht mich. Wahrscheinlich hat sie mir die Schuld dafür gegeben. Aber ich weigere mich, mir deswegen Vorwürfe zu machen. Wenn sie darüber geredet hätte, hätten wir vielleicht eine Lösung gefunden. Ich weiß es nicht.«
Milo sagte: »Hat er sie geschlagen oder …«
»Es war sexueller Missbrauch, nichts anderes«, sagte Sandra Stuehr. »Bei diesen regelmäßigen Abstechern in Elises Schlafzimmer ging es ausschließlich um Sex. Man konnte die Uhr danach stellen. Jede Nacht um zwanzig nach elf, und seine Hausschuhe haben so ein widerlich scharrendes Geräusch auf dem Teppichboden gemacht. Wie eine sich windende Schlange. Manchmal habe ich das heute noch im Ohr.«
»Hatten Sie ein gemeinsames Zimmer?«
Sie schüttelte heftig den Kopf. »Elise und ich hatten nebeneinanderliegende Schlafzimmer, aber ich konnte seine Schritte hören, das Knarren und Schaukeln des Betts – ich habe es gespürt, weil das Kopfteil meines Betts genau an der Wand war. Danach wurde es ruhig, und ich habe Elise wimmern gehört. Ich konnte sie hören. Doch ich war zu verängstigt, um irgendetwas anderes zu machen, als im Bett zu bleiben. Was, wenn er mich besucht und mein Bett zum Knarren gebracht hätte? Aber das hat er nie getan. Ich war erleichtert. Obwohl ich mich ab und zu gefragt habe, ob es nur daran lag, dass Elise schlank und hübsch war, während ich das kleine Pummelchen darstellte.«
Sie biss sich auf die Lippen. Dann stand sie auf, brachte ihre Tasse in die Küche, öffnete den Kühlschrank, riss eine Dose Fresca auf und setzte sich wieder.
»Ein Schuss Wodka dazu wäre bestimmt nett, aber ich trinke keinen Alkohol mehr. Nicht dass ich ein Problem damit hätte, das nicht, ich konnte mich immer beherrschen. Aber seit ich hierhergezogen bin, habe ich mir vorgenommen, gesünder zu leben. Yoga, Meditation, Spaziergänge am Strand. Mit dem Rauchen habe ich auch aufgehört. Habe sieben Kilo zugelegt, aber ich kann wieder frei atmen.«
»Ihr Vater war Mittelschulrektor«, sagte ich. »Gab es irgendwelche Anzeichen dafür, dass er seine Schüler missbraucht hat?«
»Ich bin mir sicher, dass er’s getan hat. All die kleinen Mädchen, die da herumgerannt sind? Die waren doch leichte Beute. Er hat die Chancellor fast vierzig Jahre lang geleitet. Wieso hätte er sich so eine großartige Gelegenheit entgehen lassen sollen? Aber alles rächt sich irgendwann, wie Sie sicher schon herausgefunden haben.«
»Ist ihm etwas zugestoßen?«
»Sie wissen es also nicht«, sagte sie. »Vor neun Jahren hat ihm jemand eine Kugel in den Kopf gejagt.«
»Wer?«, fragte Milo.
»Das wurde nie aufgeklärt«, sagte sie grinsend. »Die Polizei meinte, es wäre ein Raubüberfall gewesen, aber ich habe mich immer gefragt, ob es nicht ein Vater oder Bruder war, der es ihm heimzahlen wollte. Oder sogar ein Mädchen, das erwachsen geworden war und seine Wut ablassen wollte.«
»Jemand wie Ihre Schwester.«
»War es Elise? Vielleicht. Ich habe keine Ahnung, ob sie in Baltimore war, als es geschehen ist, aber wer weiß?«
»Hat er noch gearbeitet, als es passiert ist?«
»Er war seit einem Jahr im Ruhestand. Man fand seine Leiche auf dem Gehsteig, zwei Blocks von seinem Haus entfernt. Seine Hosentaschen waren nach außen gestülpt, die Brieftasche war weg, er lag auf dem Bauch und hatte ein Loch im Hinterkopf. In dieser Gegend gab es sicher jede Menge Überfälle, denn dieser Teil von West-Baltimore hatte sich sehr verändert, seit er ein Junge war. Er war der letzte Weiße, der dort die Stellung hielt. Was ihn nicht von seinen nächtlichen Spaziergängen abgehalten hat. Er wollte es nicht wahrhaben, nehme ich an. Oder er war einfach nur ein alter arroganter Dickschädel.«
»Wie hat Elise auf seine Ermordung reagiert?«
»Keine von uns hat darüber gesprochen, und die Leiche haben wir einäschern lassen. Ich würde gern glauben, dass sie zumindest teilweise froh darüber war. Wenn sie solche Gefühle überhaupt zugelassen hat.«
»Teilweise?«
»Vermutlich war sie traurig. Selbst mir geht es gelegentlich so, so verrückt es auch ist. Er hat fünfzehn Jahre lang jeden Morgen das Frühstück für mich gemacht. Hat mir die Haare gekämmt, bis ich elf war. Alle haben gesagt, er wäre ein wunderbarer, fürsorglicher Mann.«
»Sie und Elise haben nie über den Mord gesprochen?«, fragte Milo.
»Kein Wort. In seinem Testament
Weitere Kostenlose Bücher