Alex Rider 7: Snakehead
Ferne ertönte dumpfes Donnergrollen und die Luft schien sanft zu vibrieren. Noch regnete es nicht, aber bald würde ein Gewitter losbrechen. Gut. Genau das hatte Alex sich erhofft. Er sah nach links und rechts. Das Gelände wurde die ganze Nacht von einer langen Reihe Bogenlampen angestrahlt. Die Krankenhausangestellten, der Pilot und der amerikanische Fernsehproduzent schlie fen.
Alex zögerte noch einige Sekunden, er dachte daran, wie wunderbar es wäre, wenn in diesem Augenblick der MI6 – vielleicht Ben Daniels mit seiner Spezialeinheit – hier auftauchen würde. Aber er wusste, das würde nicht passieren. Er war ganz auf sich allein gestellt.
Er lief zum Steg. Wenn er doch nur ein Flugzeug steuern könnte! Dann hätte er die Piper vielleicht irgendwie starten können und wäre binnen weniger Minuten auf dem Weg in die Freiheit gewesen. Sein Onkel hatte ihm zwar alles Mögliche beigebracht, aber für einen Pilotenschein war er als Vierzehnjähriger einfach noch zu jung. Egal. Das Flugzeug konnte ihm trotzdem nützlich sein – denn Dr. Tanner hatte einen großen Fehler gemacht. Er hatte das Gelände perfekt gesichert – aber nur, als die Piper nicht da gewesen war . Und jetzt war siewieder da. Und auch wenn Alex das Wasserflugzeug nicht fliegen konnte, würde es ihm bei seiner Flucht nützlich sein.
Alex gelangte unbemerkt an den Steg und kroch in den Schatten des Flugzeugs, das auf seinen zwei Schwimmern sanft im Wasser schaukelte. Wieder donnerte es in der Ferne, diesmal schon lauter, und die ersten Tropfen prasselten auf seine Schultern. Sehr bald würde das Gewitter losbrechen. Alex sah sich die Piper genau an. Cockpit und Rumpf wurden seitlich von je zwei Metallstreben gestützt, die unten an den Fiberglasschwimmern festgeschraubt waren. Genau wie er es in Erinnerung hatte.
Alex nahm wieder die 10-Baht-Münze aus der Tasche. Es war die letzte der drei, die Smithers ihm gegeben hatte, und er dachte, wenn alles nach Plan ging, würde jede einzelne von ihnen ihm das Leben gerettet haben. Er befestigte sie an der stärkeren der beiden Metallstreben und sah zum Himmel auf. Nur wenige Sterne zeigten sich zwischen den rasch dahinziehenden Wolken. Dahinter flackerten Blitze, weiß und violett. Alex nahm das Kaugummipäckchen. Er wartete auf den nächsten lauten Donnerschlag und drückte genau im richtigen Moment den Schalter.
Es gab einen Blitz und eine kleine Explosion, die man vielleicht sogar ohne das Gewitter nicht gehört hätte. Aber die Münze hatte die gewünschte Wirkung erzielt. Eine der Streben war zerfetzt, die andere hatte sich von dem Schwimmer gelöst. Die Piper sank schräg ins Wasser. Alex legte sich auf den Steg, stemmte seine Füße an den Schwimmer und drückte und drückte mit aller Kraft, bis er ihn unter dem Flugzeug freibekommen hatte. Das Flugzeug sank noch ein Stück tiefer. Alex packte den Schwimmer und zog ihn zu sich ans Ufer.
Der Schwimmer hatte fast dieselbe Form und Größe wie ein Kajak. Bei der Explosion war oben ein Loch aufgerissen worden, in das Alex mit beiden Beinen hineinpasste. Zugegeben, der Schwimmer hatte weder Fuß- noch Becken- noch Rückenstützen und der Rumpf war zu flach. Dadurch lag das Ding zwar stabil im Wasser, war aber auch schwieriger zu manövrieren. Außerdem war es viel zu schwer. Die meisten modernen Kajaks sind aus Kevlar oder verleimten und mit Harz verstärkten Kohlefasern. Der Schwimmer war bestimmt so lahm wie ein Londoner Bus. Aber immerhin ein Transportmittel. Ein anderes hatte Alex nicht.
Alex war in seinem Leben bisher dreimal Kajak gefahren. Zweimal mit seinem Onkel, Ian Rider, in Norwegen und Kanada; und einmal in Wales mit seiner Schulklasse, als er seinen Duke of Edinburgh’s Award gemacht hatte. Mit Stromschnellen kannte er sich ganz gut aus – die Strudel und Kehren und Abstürze, die das Fahren zu einer so anstrengenden Sache machten. Aber ein Experte war er deswegen noch lange nicht. Ganz und gar nicht. Rasendes Tempo, Schreie und wild schäumendes Wasser – das war alles, was er von seiner letzten Fahrt noch in Erinnerung hatte. Da war er dreizehn und am Ende nur froh gewesen, dass er es überlebt hatte.
Das Skalpell – in Toilettenpapier gewickelt, um Verletzungen zu vermeiden – hatte er in der Hosentasche. Jetzt wickelte er es aus, froh, dass er es aus Dr. Tanners Büro mitgenommen hatte. Vorsichtig schnitt er die scharfen Zacken und Kanten an den Rändern des Lochs weg, denn er wusste, der Weg flussabwärts würde
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