Alex Rider 9: Scorpia Rising (German Edition)
die Zähne putzte, lächelte es ihn aus dem Spiegel an. Wenn er abends an einem Fenster vorbeiging, schwebte es neben ihm her. Wenn es stark geregnet hatte, starrte Alex Rider ihm aus den Pfützen entgegen. Am liebsten hätte er sich das Gesicht mit den Fingernägeln abgekratzt. In den ersten Wochen der Haft hatte er genau das versucht und tiefe Kratzer auf Stirn und Wangen hinterlassen. Damals war angeordnet worden, dass er psychiatrische Hilfe brauchte. Jetzt war er zu seinem nächsten Termin unterwegs.
Er streckte die Hand aus und drückte auf den Klingelknopf neben der Eingangstür. Natürlich wurde er erwartet, aber ohne Klingeln hineinzugehen, war verboten. Die Klingel läutete sowohl im Haus wie im Kontrollraum. Eine Kamera hatte ihn bereits erfasst und eine Wache überprüfte, dass alles seine Ordnung hatte. Jawohl, Julius hatte einen Termin um elf. Er war auf die Minute pünktlich.
Die Haustür ging auf und eine kleine, grauhaarige Frau streckte den Kopf heraus. Sie trug wie immer Schwarz, darunter eine weiße, bis zum Hals zugeknöpfte Bluse und wenig Schmuck. Ihrem Aussehen nach hätte sie Rektorin einer Grundschule in einem abgelegenen englischen Dorf sein können. Sie war Mitte vierzig, hatte einen verkniffenen Mund und eine Stupsnase, hieß Rosemary Flint und war Jugendpsychiaterin. Seit einem halben Jahr traf sie sich zweimal die Woche mit Julius. Die Gespräche fanden im Wohnzimmer des Direktors statt und nicht in der Bücherei oder in Julius’ Zelle. Dr. Flint erhoffte sich von der behaglichen Atmosphäre einen wohltuenden Einfluss auf ihren Patienten.
»Guten Morgen, Julius«, sagte sie. Sie hatte eine jener Stimmen, die zugleich freundlich und sachlich klingen. Man spürte förmlich, dass sie nie die Beherrschung verlor.
»Guten Morgen, Dr. Flint«, antwortete Julius.
»Wie geht es dir heute?«
»Sehr gut, danke.«
»Komm herein.«
Sie hatten genau dieselben Worte schon etwa fünfzigmal gewechselt und Dr. Flint war aufgefallen, dass der Junge immer genau gleich klang. Kühl und höflich. Sein Blick war leer. Sie hatte mit Julius nie darüber gesprochen, dass sie unter anderem auch beurteilen sollte, ob er eines Tages entlassen und wieder in die Gesellschaft eingegliedert werden könnte. Schließlich war es nicht nur seine Schuld, dass er hier eingesperrt war. Er war so erschaffen worden. Im britischen Geheimdienst hoffte man, er könnte geheilt werden und eines Tages ein normales Leben führen. Dieser Tag lag nach Dr. Flints Einschätzung noch in weiter Ferne.
Sie führte ihn ins Wohnzimmer und zeigte auf ein bequemes, mit einem Blümchenstoff bezogenes Sofa. Die Geste war überflüssig. Julius saß jedes Mal auf demselben Platz. Die Frau des Direktors mochte Blumen. Auch die Tapete des Wohnzimmers war geblümt und auf einem niedrigen Tischchen aus dunklem Holz stand eine Vase mit Rosen aus dem Garten. Die Vorhänge hielten einen Großteil des Sonnenlichts ab. An einer Wand hatte früher ein alter Spiegel gehangen. Julius hatte ihn in der dritten Sitzung zertrümmert. Der Direktor war wütend gewesen, Dr. Flint hatte jedoch durchgesetzt, dass Julius nicht bestraft wurde. Aus ihrer Sicht war der Junge nicht für seine Handlungen verantwortlich. Sie betrachtete ihn zumindest teilweise als Opfer. An der Stelle des Spiegels hing jetzt ein Gemälde mit einer Ansicht von Cádiz.
»Möchtest du ein Glas Orangensaft, Julius?«, fragte Dr. Flint.
»Nein danke.« Julius trank oder aß nie etwas während der Sitzungen. Dr. Flint hatte es mit Keksen, Schokolade, Cola und Kuchen versucht – vergeblich. Sie wusste warum. Irgendetwas von ihr anzunehmen, hätte bedeutet, ihr eine gewisse Macht über ihn zuzugestehen. Sie mochte die Regeln vorgeben, doch er spielte sein eigenes Spiel. Trotzdem hoffte sie, dass er eines Tages etwas annehmen würde. Dann würde sie wissen, dass der Genesungsprozess endlich begonnen hatte.
»Wie war deine Woche?«
»Sehr gut, danke.«
»Hast du etwas aus der Gefängnisbücherei gelesen?«
»Ich habe gerade mit Schicksalsgefährten angefangen.«
»Ausgezeichnet, Julius. Du solltest so viel lesen, wie du kannst.« Dr. Flint lächelte. »Wovon handelt es?«
»Von ein paar blöden Pferden, die im Krieg getötet werden.«
»Gefällt es dir nicht?«
»Nein, nicht besonders.«
Dr. Flint seufzte. Der Junge log. Sie kannte sämtliche Bücher, die er ausgeliehen, und alle, die er gelesen hatte. Er war der einzige Jugendliche im Gefängnis und es gab nicht viele
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