Alex Rider 9: Scorpia Rising (German Edition)
Kinderbüchern zu gehen. Das war es sicher, was die Schreiber der Nachricht von ihm erwarteten.
Er blieb vor dem Regal stehen. Die Roald-Dahl-Sammlung nahm ein ganzes Brett ein. Julius hatte keinen einzigen Band gelesen, er hatte nur einmal einen der Terroristen mit dem Fantastischen Mr Fox gesehen. Alles war genau so wie bei seinem letzten Besuch. Wo er die Bücher herausgezogen hatte, klafften immer noch Lücken.
Dann entdeckte er es – ein neues, auf der Seite liegendes Buch. Dick, ein wenig verstaubt und gebunden. Der Titel lautete: Die Tiere von Gibraltar, Band II: Vögel, Insekten und Spinnentiere. Es gehörte nicht hierher, sondern auf die andere Seite des Raumes, zu den Naturkundebüchern. Aber nicht das hatte seine Aufmerksamkeit geweckt, sondern der Einband. Darauf war ein Tier abgebildet, das ihn mit seinen kleinen Augen anstarrte. Ein Zufall war ausgeschlossen.
Es handelte sich um einen Skorpion, das gleiche Tier wie auf der Nachricht vom Vortag.
Julius blickte sich verstohlen um. Carlos saß an seinem Computer und tippte etwas ein. Er schien ihn vergessen zu haben. Blieben noch die Kameras in jeder Ecke. Bestimmt verfolgten sie im Kontrollraum neben dem Gefängnistor all seine Bewegungen. Also spielte er seinen Beobachtern eine kleine Szene vor. Er zog ein Buch heraus, dann noch eins, tat, als überlege er, welches er lesen sollte, und ging dann schließlich mit dem Tierbuch zu einem Tisch.
Er hatte den Platz bewusst gewählt. Der Tisch stand unmittelbar neben einem Regal, das ihn vor den Kameras abschirmte. Carlos konnte ihn zwar noch sehen, aber nicht das Buch. Vorsichtig öffnete er es. Und erstarrte. Wie war das möglich? Niemand wusste von dem Gefängnis, kein Unbefugter konnte es betreten. Und doch lag dieses Buch vor ihm, aus dem jemand die Seiten herausgeschnitten hatte. In dem Versteck war eine Pistole, eine Mauser C96. Mit abgeschnittenem Lauf, damit sie hineinpasste.
Julius strich mit den Fingern über das kalte Metall. Er hatte mit neun Jahren schießen gelernt und mit elf das erste Mal getötet. Doch er hatte schon seit mehr als einem Jahr keine Waffe mehr in den Händen gehalten und nicht geglaubt, dass er je wieder eine besitzen würde. Einen kurzen Moment verspürte er den Drang, sie zu nehmen, sich umzudrehen und Carlos zu erschießen. Aber das wäre verrückt. Er musste vorsichtig sein und Schritt für Schritt vorgehen.
In dem Buch lag zusammengefaltet eine zweite Nachricht. Sie war viel länger und ausführlicher als die vom Vorabend. Julius las sie sorgfältig. Die Leute, die ihm halfen, meinten es ernst. Als er fertig gelesen hatte, klappte er das Buch zu und stand auf. Es war halb eins. Er lag gut in der Zeit und wusste, was er zu tun hatte.
Julius Grief hat seit seiner Ankunft in Gibraltar keine Fortschritte gemacht. Der Patient empfindet einen tief verwurzelten, unauslöschlichen und krankhaften Hass auf Alex Rider. Zugleich sieht er aufgrund einer kosmetischen Operation genauso aus wie der Gegenstand seines Hasses. Daraus folgt mit großer Sicherheit, dass er diesen Hass unterbewusst auch gegen sich selbst richtet. Meiner Einschätzung nach besteht die akute Gefahr, dass diese innere Zerreißprobe den Jungen in eine tiefe Krise stürzen und eine Depression, einen Selbstmordversuch oder einen Nervenzusammenbruch auslösen wird.
Dr. Flint las noch einmal durch, was sie geschrieben hatte, und tiefe Niedergeschlagenheit überkam sie. Sie hatte seit ihrem Berufseinstieg mit psychisch geschädigten Jugendlichen gearbeitet, aber noch nie mit jemandem wie Julius Grief. Sie versuchte, Mitleid mit ihm zu empfinden. Er war von Anfang an manipuliert worden – nicht einmal seine Geburt war auf natürliche Art verlaufen. Er war ein Monstrum, geschaffen zu einem einzigen Zweck: um seinen Vater zum mächtigsten Menschen der Welt zu machen. Sie hatte die Akte über Hugo Grief gelesen und war entsetzt gewesen. Alle sechzehn Söhne waren systematisch mit Hass und Wahnsinn gefüttert worden. Abgesehen von den beiden, die bereits tot waren, waren alle für den Rest ihres Lebens in geheimen Einrichtungen weggesperrt worden. Sie konnten nichts dafür.
Es war zwar unprofessionell, aber sie schaffte es einfach nicht, ihre tiefe Abneigung gegen Julius zu überwinden. Julius war ein schrecklicher Mensch. Sie ließ sich von ihm auch nicht zum Narren halten. Obwohl er sich gehorsam mit ihr unterhielt, Assoziationsketten bildete und verschiedene psychologische Tests absolvierte, wusste sie, dass er mit
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