Alexander - der Roman der Einigung Griechenlands
Sommer wurde Pythias ein wenig sichtbarer. Die stille, schöne, anmutige Frau hatte sich immer im Hintergrund gehalten, weil es ihr entsprach und auch, um die Heranbildung der Jungen zu Teilen eines männlichen Ordnungssystems nicht zu beeinträchtigen. Aber sie war immer da, eine warme, liebevolle Gegenwart hinter den Dingen; die Ruhe und Kraft, die Aristoteles bei ihr fand, verwandelte er in Güte und Geduld und gab sie an die Schüler weiter. Wer unter den Jüngeren mütterlichen Trost brauchte, fand ihn bei Pythias, deren Herrschaft über den Haushalt, die Versorgung, die innere Ordnung von Mieza ebenso unumschränkt wie still war.
Eines Abends bat sie Alexander zu einem Gespräch. In der blauen Schärpe, die sie um die schlanken Hüften gewunden hatte, steckte eine Briefrolle. Sie gingen den Weg nach Beroia hinab, nicht weit, nur bis jenseits des Lauf- und Kampfgeländes. Eine leichte Brise linderte die Hitze des Tages; etwas wie Rauch von einem fernen Waldbrand lag in der Luft und überdeckte die näheren Gerüche der Blumen, Sträucher und Bäume. Es war kurz nach Sonnenuntergang; der Himmel war noch hell, und der Vollmond stand wie eine Silbermünze auf dem Grat des Hügelzugs gegenüber.
Pythias setzte sich unterhalb des Weges auf einen vor Jahren gestürzten Stamm. Jüngere Schüler hatten Efeu und Flechten entfernt und am Holz herumgeschnitzt, als ob sie hier in den Bergen einen Einbaum wider die nächste große Flut erschaffen wollten. Als es dunkler wurde, versickerte langsam der Strom von Ameisen, die ihre mysteriösen Geschäfte ruhen ließen und wenige Schritte links des Stamms in einem mannshohen Hügel verschwanden. Der Mond löste sich vom Berg und schwang sich in den Himmel, um zwischen glitzernden Sternen zu grasen. Alexander lehnte neben Pythias; er hielt den Kopf gesenkt und sah zu, wie unterhalb des leichten hellen Leinengewands ihre Füße mit den Sandalen und dann mit dem Waldboden verschmolzen.
» Du kannst sprechen oder schweigen, wie du möchtest.« Pythias’ Stimme war dunkel und warm, wie der Abendwind. » Es ist nichts, was ich mit dir zu bereden hätte. Ein Brief von Olympias.«
Sie legte die Hand an die Rolle; Alexander seufzte leise.
» Die Verbesserung der Verbindungen zwischen Mieza und der Welt hat ihre Nachteile.« Pythias lächelte verhalten. » Wir erfahren, was an anderen Orten vorgeht, und andere Orte hören oder lesen Dinge, die sich hier ereignen. Deine Mutter ist besorgt, und die Art ihrer Besorgnis hindert sie daran, sich an Aristoteles zu wenden.«
Alexander blickte auf; um seinen Mund lag ein spöttisches Lächeln. » Olympias hat sich nie durch irgend etwas hindern lassen, das zu tun, was sie für tunlich hielt. Wenn sie an dich schreibt statt an Aristoteles, dann nicht aus Zweifel oder Feinfühligkeit, sondern weil sie sich größeren Nutzen verspricht.«
Pythias betrachtete ihn aufmerksam. Als sie weiterredete, klang ihre Stimme ein wenig härter, als spräche sie nicht zu einem Schüler des Philosophen, sondern mit einem gleichrangigen Erwachsenen. » Es ist ein langer Brief einer scharfsinnigen Frau. Kluge Gedanken über das Zusammenleben von Männern und Frauen, Männern und Männern, Frauen und Frauen. Nichts davon ist ungebührlich oder verwerflich, sagt sie, solange nicht die wichtigen Dinge außer Acht gelassen werden. Es ist ein sehr gewöhnlicher Vorgang, daß ein Mann einen Mann liebt oder eine Frau eine Frau. Dies ist unter Hellenen so, und auch unter Barbaren; Perser und Kelten, sagt man, sind der Knabenliebe besonders zugetan. Die meisten Hellenen lieben sowohl Männer als auch Frauen. Vielleicht sogar in dieser Reihenfolge.«
» Was ist mit Aristoteles– wenn ich fragen darf?«
Pythias sah ihm in die Augen. » Du darfst, denn daran ist nichts Geheimes. Aristoteles gehört zu den wenigen Hellenen, hellenischen Männern, die nur Frauen lieben. Es ist sein Kummer, und auch der meine, daß uns die Götter bisher die Freude eines Kindes versagt haben. Aber du kennst ihn ja; du weißt, daß er seine Wünsche und Werte niemandem aufdrängt, anders als Platon. Meistens spricht er sie nicht einmal aus– wenn es nicht gerade um den Unterschied zwischen Hellenen und Barbaren geht.« Sie kicherte leise. » Aber in dieser Sache gibt es da keinen Unterschied; jedenfalls nicht im Grundsätzlichen. Nur, vielleicht, in der philosophischen Bewertung. Aber die überläßt Aristoteles jedem selbst.«
Alexander nickte. » Und meine Mutter überläßt sie nur
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