Alexander - der Roman der Einigung Griechenlands
Demosthenes?«
Aristoteles nickte ganz langsam. » Ich kenne ihn. Es wäre ihm zuzutrauen. Alles wäre ihm zuzutrauen.«
Antipatros griff nach dem Weinkrug. » Aber woher weiß er es? Jemand in Pella muß Demosthenes… Oder jemand aus der Umgebung von Hermias.«
Die nächsten Tage nach der Abreise von Antipatros überließ Aristoteles seinen Helfern die Leitung des Nymphaion. Er trauerte, wie Pythias, nicht um einen Toten, nicht wegen des Todes, sondern wegen der Art des Sterbens; darum, daß ein Tapferer, ein Herrscher und Philosoph, ein treuer Freund, zum zweiten Mal von den Barbaren gefoltert worden war. In der Jugend hatten sie ihm die Lust genommen, ihn zum Eunuchen gemacht; nun hatten sie ihm die Möglichkeit heiteren Alterns geraubt, und das Leben.
» In Delphi«, sagte Aristoteles viele Tage später, als er in der Wandelhalle einige der älteren Schüler versammelt hatte, » wenn die hellenischen Wirren es zulassen– in Delphi will ich ihm einen Stein weihen.« Er lachte plötzlich, fast heiter oder jedenfalls gelassen. » Wie ihr seht, meine jungen Freunde, ist auch ein alternder Philosoph bisweilen Opfer seiner Gefühle. Vielleicht wird derlei leichter zu ertragen sein, wenn ich ein paar Jahre älter bin. Sagen wir, fünfundvierzig oder fünfzig Jahre alt. Aber heute…« Er verschränkte die Hände auf dem Rücken. » Manche laufen in den Wald, rammen den Kopf gegen Bäume, wenn etwas in ihnen brodelt. Andere zerschmettern alle irdenen Behältnisse des Haushalts. Wieder andere greifen zum Schwert, stürzen sich hinein, um das Brodeln aus sich herauszulassen, oder töten jemanden, der nichts mit alledem zu tun hat, nur um sich Erleichterung zu verschaffen. Ich will keine Theorie der Dichtkunst aufstellen, erneuern oder umstoßen, und sicher ist dies kein allgemeiner Vorgang, aber bei mir, heute, löst das Brodeln den dringlichen Wunsch aus, Verse zu schreiben und zu sagen. Vielleicht sind Verse etwas, das durch Metamorphose aus Brodeln entsteht, wie der Schmetterling aus der Raupe. Vielleicht ist alle Dichtung nur Verdrängung.«
» Sag uns die Verse!« Alexanders Stimme war ungewöhnlich weich, fast streichelnd.
» Wenn du willst… Sie sind nicht gut, einige jedenfalls. Ich glaube, gut sind jene, die ich auf den Stein werde schreiben lassen, in Delphi. Etwa so:
Ihn ließ meucheln der König der bogentragenden Perser,
trat das heilige Recht aller Götter in Staub,
hatte ihn nicht überwunden in offenem Kampf mit der Lanze,
sondern die Tücke und List eines Verräters genutzt.
Mag angehen, mag angehen. Schlecht als Vers, aber nicht ganz schlecht als Nebenform des Brodeins.« Er lachte.
Hephaistion hob die Hand. » Da wir bei Versen sind… Ich hörte, ich weiß nicht mehr, wer es erzählt hat, daß Aristoteles einmal Verse zum Lobe Platons geschrieben haben soll. Und nachdem ich in den Genuß gekommen bin, Aristoteles in Mieza zu lauschen, kann ich mir darunter eigentlich nicht so recht etwas vorstellen.«
Die anderen kicherten; Alexander legte eine Hand auf Hephaistions Schulter.
» Ist es wahr?« sagte er mit einem Glucksen. » Hast du wirklich Platon in Versen gepriesen?«
Aristoteles lächelte. » Ihr wollt unbedingt schlechte Verse hören, wie? Nun ja, ich habe Verse geschrieben, die in Athen allgemein als Lob auf Platon aufgefaßt werden. Oder, was das Lob noch erhöhen würde, als Preislied auf einen, der einen Gedenkaltar für Platon errichtet.
In das berühmte Athen kam er und hat dort gebaut
einen Altar der innigen Freundschaft zu jenem Gelehrten,
den zu preisen auch nur Frevlern das Recht nicht erlaubt,
ihm, der als einziger oder als erster der Sterblichen deutlich
durch sein Vorbild und durch kluge Methoden bewies,
daß man sich gut und gleichzeitig glücklich selbst formen kann.
Keiner vor ihm errang jemals solch hohes Verdienst.
Es ist aber anders gemeint.« Aristoteles kratzte sich den Kopf und grinste spöttisch. » Nicht Platon ist jener höchste Gelehrte; das ist Sokrates. Platon hat eine Art Altar erbaut, in Worten und Gedanken, das stimmt; aber indem er von der Freiheit des Fragens zur Knechtschaft des Systems gelangte, wurde er gleichzeitig zum Frevler, der eigentlich nicht preisen darf.«
Er wandte sich den Schülern zu; einen Moment lang bohrten sich seine Blicke in die Augen Alexanders. » Sich selbst formen, bilden, sich selbst gleichzeitig zum guten und zum glücklichen Menschen bilden– zum Beispiel als denkender Herrscher, der all das, was ihm als das
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