Alexander - der Roman der Einigung Griechenlands
dich auf den Armen gehalten, morgen werde ich dir gehorchen müssen; wie kann ich dich heute › Junge‹ nennen?«
» Ich will wissen.« Alexanders Stimme wurde brüchig, wie ein Schreibhalm, den starke Zähne zerfasern. » Ich will den Wind reiten und sehen, wo er geboren wird. Ich will ein Seil flechten aus Sand. Ich will die Münze prägen, die nur eine Seite hat. Ich will den Rand der Welt sehen, jenseits aller Berge und Wüsten. Die Welt ist ja eine Münze, die nur eine Seite hat und die keiner zahlen kann, oder? In welcher Münze haben die Götter Achilles bestochen– oder belohnt?«
Kleitos seufzte. » Er war dein Vorfahr, und deine Mutter hat viel von ihm geredet, damit du nicht du, sondern er wirst. Ein zweiter Achilles. Warum nicht ein erster Alexander? Es stimmt zwar, daß es besser ist, jung und ruhmvoll zu sterben, als alt und namenlos zu leben. Aber– wenn du schon ein zweiter Was-auch-immer werden willst, warum dann nicht Odysseus? Er wurde alt, und er hatte ebensoviel Ruhm wie Achilles. Warum nicht Odysseus? Warum nicht das Meer befahren bis zum Rand der Welt und darüber hinaus?«
» Kommst du mit?« Alexanders Augen durchbohrten das Zwielicht und fraßen sich fest in Kleitos’ Gesicht.
Kleitos ächzte; langsam sank er auf ein Knie. » Ich werde dir folgen, Fürst, wohin du auch führst.« Dann stand er auf, hob den verschmutzten Zipfel des Schaffells und betrachtete ihn. Er lächelte und sah Alexander an. » Wenn du älter bist, Sohn meines Königs.«
Alexander schloß die Augen. » Das Meer befahren… Ich kenne nur den Strand. Gibt es das Meer wirklich?«
» Ja. Aber ich hätte nicht so sprechen sollen. Das Meer gehört uns nicht, es ist schon aufgeteilt. Hier herum gehört alles den Athenern, die Demosthenes gehorchen. Der Rest gehört den Phönikiern, die Persien dienen. Und im Westen gehört alles den anderen Phönikiern, Karchedon; die Karchedonier dienen nur sich selbst.«
» Irgendwann muß ich nach Karchedon gehen– oder segeln. Vielleicht kennen sie den Rand der Welt, und den Weg zur Unterseite.«
Der Winter war lang und trübe, nicht nur für die Neuen, die Aristoteles zunächst im fertigen zweiten Gebäude unterbrachte, bis er beschloß, sie und die » Alten« zu mischen. Auch die Schüler, die von Anfang an in Mieza gewesen waren, litten unter Anfällen von Heimweh. Es kam noch hinzu, daß einige der älteren, Männer von sechzehn Jahren, Mieza verließen, von den Eltern oder von Philipp angefordert, um in Pella, in fernen Festungen oder beim Heer in Thrakien Dienst zu tun. Seleukos gehörte zu ihnen, ebenso Marsyas, Menelaos und Nearchos. Mylleas aus Beroia, Sohn eines alten Gefährten des Königs, lud einige mehrmals für etliche Tage und Nächte in die Stadt ein.
Auch im Winter ging Alexander morgens und abends zum nachträglich angebrachten steinernen Trog neben der Zisterne, um sich von Kopf bis Fuß zu waschen. Kallisthenes sagte spöttisch, wahrscheinlich habe seine Mutter ihn zu oft und zu heiß gebadet; Alexander warf eine Wurzelbürste nach ihm, und Aristoteles ermahnte seinen Neffen, die spitze Zunge ein wenig im Zaum zu halten. Auch einige der Schüler spotteten über Alexanders Reinlichkeit; Philipps Sohn hob lediglich die Brauen. Hephaistion sah ein paar Tage lang zu; dann stand er morgens ebenfalls früher auf und lief nackt durch die Kälte zum Trog. Sie halfen einander, Öl und Salben zu verteilen und den Überschuß mit einem Schaber zu entfernen.
Der Frühling kam, dann der Sommer, und mit ihm kam Parmenions ältester Sohn, Philotas. Er war fast zwanzig Jahre und sollte die in der Festung Beroia liegenden Truppen prüfen– im Auftrag seines Vaters und des Königs. Er verbrachte einige Tage in Mieza, dann noch ein paar in der Festung, als ob er sich von Alexander und Hephaistion, mit denen er schon vor zwölf Jahren gespielt hatte, nicht trennen könnte. Zur besseren Prüfung der Krieger nahm er auch an den Wettkämpfen teil.
Einige der neuen Jungen, mit ihnen Hephaistion und Ptolemaios, wurden von Kleitos einer Strafgruppe zugeteilt.
» Ihr dürft nie vergessen«, sagte er grinsend, » daß jedes Heer ohne Führer auskommen kann, aber nicht ohne einfache Kämpfer. Sie sind es, die die Bürde tragen. Deshalb will ich, daß ihr tragen übt. Im Winter, im Sumpf, ist das ganz lustig, aber nun wollen wir sehen, wie es euch in der Hitze mundet.« Langsam, ein Stück nach dem anderen, verschwanden die Jungen unter Helm, Gurt, Schild, Schwert, Lanze,
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