Alexander Gerlach - 05 - Echo einer Nacht
und ließ mir den kalten Herbstwind ins Gesicht wehen. Es roch nach frisch umgepflügter Erde und vermoderndem Laub. Ich wollte allein sein und auf andere Gedanken kommen.
Das erste klappte, das zweite nicht.
Auf einmal gab es in meinem Kopf nur noch einen Gedanken, ein Wort: Serientäter. Jetzt ließ es sich nicht mehr länger leugnen. Zwei Jungen ähnlichen Alters waren im Abstand von nicht einmal zwei Monaten verschwunden. Ihre Elternhäuser lagen gerade mal zehn Kilometer voneinander entfernt. Und alle Erfahrung sprach dafür, dass es nicht dabei bleiben würde. Dass er es wieder tun würde, solange wir ihn nicht gefasst hatten. Morgen, nächsten Monat, in einem Jahr, irgendwann.
Männer, die fähig waren, einem Kind Gewalt anzutun, waren oft so gestört, dass ihr Trieb sie trotz bester Vorsätze und stiller Schwüre, trotz des atemberaubenden Entsetzens über das, was sie angerichtet hatten, früher oder später wieder überwältigte. Bei manchen hatte es zehn Jahre gedauert, bis es wieder so weit war. Manche hatten im Gefängnis gesessen, waren nach Ansicht aller Gutachter und Psychologen geheilt, geläutert. Sie hatten ehrlich bereut, den Wohnort gewechselt, ein völlig neues Leben begonnen.
Und irgendwann war da dieses unwiderstehlich süße Gesicht. Dieser ein wenig zu freche oder eine Spur zu verschämte Blick. Die klaren Augen, diese glatte, so unbegreiflich unschuldige Haut, der niedliche kleine Erdbeermund, von dem man die Augen einfach nicht mehr wenden konnte. Mancher hatte sein späteres Opfer tagelang beobachtet. Sich immer der Gefahr bewusst, in die er sich dadurch begab. Mit feuchten Händen und hämmerndem Puls und der festen Überzeugung im Kopf, dass nichts, nichts, nichts passieren würde. Bloß ein bisschen gucken. Das war doch nicht schlimm. Was war schon dabei, einem Kind beim Spielen zuzusehen?
Bis es wieder so weit war.
Andere hatte es übermannt, von einer Sekunde auf die andere. Ein Kind, allein an einem zu stillen Ort. Erst wollte man vielleicht nur ein wenig reden, das Gesichtchen aus der Nähe betrachten, das feine Haar ein einziges Mal berühren, ganz sacht nur. Aber dann machte etwas »klick« in diesem verfluchten Kopf, und wenn die plötzliche Nacht zu Ende war, dann war es wieder geschehen. Dann war dieser Teufel in einem wieder einmal für einen winzigen Moment aufgewacht.
Als ich nach fast zwei Stunden nach Hause kam, durchfroren und so unruhig wie zuvor, dunkelte es schon. Die Wohnung fand ich leer.
»Sind bei Silke«, stand auf einem Zettel am Spiegel. »Französisch lernen.« Darunter zwei völlig identisch aussehende Smilies.
Ich bin sonst gerne allein, aber an diesem Abend fühlte ich mich einsam. Keine SMS auf dem Handy, nichts auf der Mailbox. Weder aus der Direktion noch von Theresa. Zum Lesen war mein Kopf nicht mehr geeignet. Ich schaffte es kaum, einen etwas längeren Satz zu Ende zu lesen, ohne dass meine Gedanken abschweiften. Immerzu drehte sich dieses Karussell in meinem Kopf.
Auch in den Fernsehnachrichten gab es nichts Neues. Immerhin ein Lichtblick, denn für mich waren zurzeit keine Nachrichten die besten Nachrichten. Zwischen dem Ehepaar Sander und der Polizei herrschte immer noch eine Art nervöser Waffenstillstand.
So ging ich früh schlafen an diesem tristen Abend und wachte später nicht einmal auf, als meine Mädchen nach Hause kamen.
Am nächsten Morgen fand ich eine Notiz von Sven Balke auf meinem Schreibtisch. Es war ihm gelungen, den Besitzer des Handys zu ermitteln, dessen Nummer Pretorius am vergangenen Mittwoch um zehn Uhr vierunddreißig in meinem Beisein gewählt hatte. Meine Freude währte nur wenige Augenblicke: Die Nummer gehörte zu einem Prepaid-Handy. Eingetragener Besitzer war ein gewisser René Pretorius. Der Detektiv hatte seinen geheimen Zeugen einfach mit einem Handy ausgestattet, das auf seinen Namen lief. Kein guter Anfang für einen Freitag.
In meinem Vorzimmer blieb es still. Sönnchen gönnte sich einen Brückentag, fiel mir ein, als sie um neun immer noch nicht am Schreibtisch saß. Und Liebekind hatte sich einen Schnupfen eingefangen, erfuhr ich per SMS von Theresa. Aus diesem Grund würde unser Freitagabendtreffen ausfallen müssen, was meine Stimmung auch nicht hob.
Nach dem selbst zubereiteten Kaffee rief ich Klara Vangelis zu mir.
»Wir sind doch sicher, dass es in der Vergangenheit keine vergleichbaren Fälle gegeben hat?«, fragte ich sie. »Das haben Sie doch überprüft?«
»Diese Frage haben Sie
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