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Alexander Gerlach - 05 - Echo einer Nacht

Titel: Alexander Gerlach - 05 - Echo einer Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Burger
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und saß dann wieder in exakt derselben Haltung da wie zuvor. Nur dass sie jetzt nicht mehr weinte. Etwas in ihrer Haltung hatte sich verändert.
    Sie sah mir sogar ins Gesicht, als sie weitersprach: »Erst dachte ich, in einer halben Stunde wird Tim bestimmt zurück sein. Vielleicht hat er auf eigene Faust das Viertel erkundet, dachte ich. Obwohl ich ihm ausdrücklich verboten hatte, das Grundstück zu verlassen. Später, als mir klar wurde, dass etwas nicht stimmte, da …« Sie senkte den Blick. Sah wieder auf. »Ich habe nach ihm gesucht. Natürlich. Bis es dunkel wurde.«
    »Aber spätestens am nächsten Morgen hätte Ihnen klar werden müssen, dass Tim nicht von allein zurückkommen wird«, unterbrach ich sie grob.
    Wie bei einer Lüge ertappt, sah sie weg. Der Wasserhahn tropfte immer noch. Die Uhr tickte.
    »Ja, Sie haben recht«, flüsterte sie nach langer Stille. »Ja, ich werde erpresst.«
    Ein Ruck ging durch Vangelis.
    »Abends gegen zehn gab es einen Anruf. Sehen Sie in den Briefkasten. Nur diese fünf Worte: Sehen Sie in den Briefkasten.«
    »Und was haben Sie dort gefunden?«
    »Einen Brief. Darin stand, sie hätten Tim. Sie verlangen eine halbe Million. Und sie würden sich wieder melden. Und ich darf auf keinen Fall …«
    »Die Polizei einschalten«, beendete ich ihren Satz resigniert.
    »Diesen Brief würden wir gerne mitnehmen«, sagte Vangelis. »Und den Umschlag auch, falls es einen gab.«
    Muriel Jörgensen nickte.
    »Würden Sie die Sachen bitte holen?«, fragte ich, als sie sich nicht rührte.
    »Ich …« Ihr Blick irrte umher. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich den Brief noch finde. Ich müsste suchen.«
    Für einige Sekunden waren wir sprachlos.
    »Sie haben ihn doch hoffentlich nicht weggeworfen!«
    »Ich erinnere mich nicht. Ich werde suchen. Ich verspreche es Ihnen. Ich werde danach suchen.«
    »Okay, vielleicht lassen wir diesen Punkt erst mal«, entschied ich. »Wie ging es dann weiter?«
    »Überhaupt nicht. Die Entführer haben sich nie wieder gemeldet.«
    Vangelis und ich wechselten einen Blick. Wir wussten beide, was das bedeutete: Nach der Entführung war etwas schiefgegangen. Vielleicht hatte Tim versucht zu fliehen, vielleicht hatte der Entführer den Kopf verloren. Die steinerne Miene der Mutter ließ mich vermuten, dass sie schon tausendmal dieselben Überlegungen angestellt und dieselben Schlüsse gezogen hatte.
    »Warum haben Sie denn nicht wenigstens mit Ihrem Mann gesprochen?«
    »Hermann … er war zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr hier. Und … ich … Ja, vielleicht hätte ich das tun sollen, ja, aber ich …«
    Inzwischen kostete es mich große Mühe, nicht die Beherrschung zu verlieren. War diesem stammelnden Häufchen Elend denn nicht klar, dass sie möglicherweise am Tod ihres Kindes schuld war? War ihr denn nicht bewusst, dass Tim längst wieder hier sein könnte, wenn sie uns rechtzeitig informiert hätte?
    »Lassen Sie uns einfach noch mal von vorn beginnen«, sagte Vangelis unerbittlich freundlich. »Es ist wichtig, dass Sie sich möglichst genau an jede Einzelheit erinnern. Das wird nicht leicht sein, nach so langer Zeit. Aber wir werden Ihnen helfen.«
    Muriel Jörgensen nickte abwesend.
    Die silberne Armbanduhr an ihrem zerbrechlichen Handgelenk war Kaufhausware. Das nicht übermäßig geschmackvolle Kleid war schlecht gebügelt und kam von der Stange. Ihre Figur hatte kaum Rundungen, wenig Frauliches, das Gesicht war in besseren Zeiten vermutlich hübsch, das kirschfarbene, kurz geschnittene Haar matt und auch schon ein wenig strähnig. Diese Frau war am Ende ihrer Kräfte und hielt sich nur durch unmenschliche Anstrengung aufrecht.
    »Tim ist an jenem Nachmittag nach draußen gegangen, spielen«, flüsterte sie auf einmal.
    »Wann genau?« Vangelis hielt plötzlich einen Stift in der Hand und ihr kleines Notizbuch auf dem Knie.
    »Kurz vor drei. Fünf vor vielleicht.«
    »Sie haben ihn später noch einmal gesehen?«
    »Mehrfach. Anfangs hat er mit einem Mädchen aus der Nachbarschaft gespielt, Chantal Weberlein. Die beiden haben Ball gespielt, über den Zaun. Das machen sie öfter. Und als ich später wieder vor die Tür getreten bin, da haben sie mit Puppen gespielt. Auch über den Zaun.«
    »Sind die Kinder denn nicht auf die Idee gekommen, den Zaun irgendwie zu überwinden?«, fragte ich.
    Erschöpft schüttelte sie den Kopf. »Dazu hätte Tim ja den Garten verlassen müssen.«
    »Und Chantal durfte auch nicht zu ihm herüberkommen?«
    »Nein.«

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