Alexander Gerlach - 05 - Echo einer Nacht
Sie doch, ich konnte es nicht.«
»Vielleicht erzählen Sie einfach mal«, sagte Vangelis mit Wärme. »Und ich schlage vor, wir setzen uns dazu hin. Es spricht sich leichter so.«
Manchmal staunte ich über das Mitgefühl, das die sonst so kühle und unnahbare Erste Kriminalhauptkommissarin Klara Vangelis an den Tag legen konnte, wenn es am Platz war. Tims Mutter sank auf einen der beiden Sessel, Vangelis und ich setzten uns nebeneinander auf die breite Ledercouch.
Über uns – diesmal hörte ich es deutlich – tappten Schritte. Muriel Jörgensen hatte ein schönes Profil, bemerkte ich plötzlich.
»Was ist passiert?«, fragte ich, da sie offenbar nicht von sich aus sprechen wollte.
Sie verzog das Gesicht, als hätte sie plötzlich Zahnschmerzen. Immer noch tropfte der Wasserhahn. Ich unterdrückte den Drang aufzuspringen und ihn fest zuzudrehen. Die Schritte oben hatten aufgehört.
»Tim war draußen«, begann sie endlich. »Ich habe nur wenige Minuten nicht nach ihm gesehen. Man kann sein Kind doch nicht jede Sekunde im Auge haben, nicht wahr?«
»Natürlich nicht. Außerdem ist Tim ja immerhin schon vier.«
Sie schenkte mir einen dankbaren Blick. Dann sah sie auf ihre Hände mit den ineinander verschlungenen Fingern.
»Tim ist ein sehr ruhiges und folgsames Kind, müssen Sie wissen. Gut, er war in den letzten Wochen manchmal ein wenig … nörgelig. Aber ich bin sicher, er hätte niemals gewagt, sich auf eigene Faust … Nein, das hätte er ganz bestimmt nicht.« Als müsste sie sich selbst überzeugen, schüttelte sie heftig den Kopf zu ihrem letzten Satz.
»Ihr Sohn hat draußen gespielt. Und später, als Sie wieder nach ihm gesehen haben …«
Sie schloss die Augen, als könnte sie so die Wahrheit aussperren.
»Da war er weg«, half Vangelis sanft nach. »Verschwunden.«
Sie erntete ein verzagtes, verzweifeltes Nicken. Die Mutter schlang die Arme um den Oberkörper, als wäre ihr plötzlich kalt. Auch Vangelis schien zu frösteln. Es war auch wirklich verflucht kühl in diesem Haus.
»Ich wiederhole meine Frage«, sagte ich streng. »Wieso, um Himmels willen, haben Sie sich nicht an uns gewandt? Ich kann ja verstehen, dass Sie vielleicht im ersten Schrecken den Gedanken nicht zugelassen haben, Ihrem Kind könnte etwas zugestoßen sein. Aber spätestens nach ein paar Stunden hätte Ihnen doch klar werden müssen, dass Sie Hilfe brauchen!«
Frau Jörgensen hob die schmalen Schultern und begann, lautlos zu weinen. Ich kann es nicht ertragen, wenn Frauen weinen. Es macht mich nervös.
»Wir verstehen, dass Sie Angst hatten.« Vangelis beugte sich vor und legte eine Hand auf das Knie der von unhörbarem Schluchzen geschüttelten Frau. »Aber Herr Gerlach hat leider recht. Sie hätten uns informieren müssen.«
Oben rauschte eine Klospülung.
Anstelle einer Antwort schlug Tims Mutter die Hände vors Gesicht und weinte heftiger. Von Krämpfen geschüttelt saß sie da, Tränen tropften von den schmalen Handgelenken. Und noch immer war kein Ton zu hören.
»Werden Sie erpresst?«, fragte Vangelis leise. »Hat man Ihnen verboten, mit uns zu sprechen?«
»Wer sind diese Leute?«, fragte eine brüchige Stimme vom Durchgang zur Küche her. »Was machen die in meinem Haus?«
Ein zittriger Greis klammerte sich am Türrahmen fest. Er trug altmodische, braun-beige karierte Hausschuhe und einen schief sitzenden marineblauen Morgenmantel über einem viel zu weiten Schlafanzug.
»Muriel, wer sind diese Leute?«, wiederholte er seine Frage mit überkippender Stimme. »Und wieso heulst du schon wieder?«
»Lass gut sein, Papa.« Sie versuchte ein Lächeln, das fürchterlich missriet. »Die Herrschaften sind wegen Tim hier.«
»Gut, dass das Balg fort ist!«
»Papa, ich bitte dich! Was soll unser Besuch denn denken?«
»Gar nichts soll er denken. Die Leute sollen gehen. Wann gibt es Essen? Wieso kochst du nichts?«
»In drei Stunden, Papa. Es gibt Pfannkuchen mit Blumenkohl, wie du es dir gewünscht hast.«
»Die sollen verschwinden! Das hier ist immer noch mein Haus!«
»Verzeihen Sie«, flüsterte Frau Jörgensen an uns gewandt und erhob sich. Jeder ihrer Schritte wirkte, als würde sie beim nächsten stolpern. Während sie auf ihren Vater zuging, gewann sie jedoch allmählich Sicherheit zurück. Sie fasste den alten Mann am Ellbogen und führte ihn langsam fort. Ihre leise, beruhigende Stimme und die laute, zeternde des Greises entfernten sich.
Erst nach Minuten kam sie zurück, nahm wieder Platz
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