Alexander Gerlach - 05 - Echo einer Nacht
mir in den vergangenen Wochen schon drei Mal gestellt, Herr Gerlach«, antwortete sie geduldig. »Ja, das habe ich gleich zu Beginn prüfen lassen. Das machen wir doch immer so.«
Ich nahm die Brille ab, legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen.
»Bei allen auch nur halbwegs vergleichbaren Kindesentführungen in den letzten zehn Jahren wurde der Täter inzwischen gefasst«, fuhr sie nur leicht genervt fort, »oder es waren im Tatmuster zu wenige Parallelen erkennbar.«
»Wie weit haben Sie den Kreis gezogen?«
»Bundesweit.« Sie senkte den Blick und betrachtete ihre mit durchsichtigem Lack überzogenen Fingernägel. »Ich sage es ungern, aber vielleicht sollten wir uns allmählich mit dem Gedanken auseinandersetzen, dass Gundram nicht mehr lebt.«
»Es hat Fälle gegeben, da sind vermisste Kinder nach Jahren wieder aufgetaucht«, versetzte ich brüsk. »Denken Sie an dieses Mädchen in Österreich, das mit zwölf gekidnappt wurde und seinem Entführer erst sechs Jahre später wieder entkommen ist.«
»Natürlich, diese Fälle hat es gegeben. Aber leider auch viele andere. Wir können froh sein, dass er bisher nicht wieder zugeschlagen hat.«
»Ich fürchte, zu diesem Punkt habe ich eine schlechte Neuigkeit.«
Muriel Jörgensen riss die Tür auf, als hätte sie unseren Besuch erwartet. Als sie mich erkannte, erschrak sie jedoch und machte eine Bewegung, als wollte sie die Tür sofort wieder schließen. Aber das wagte sie dann doch nicht.
Die Uhr zeigte halb zehn, und heute war ich nicht allein. Für das, was nun kommen musste, war es mir lieber, eine Frau an meiner Seite zu haben.
»Ich nehme an, Sie wissen, weshalb wir hier sind«, sagte ich nicht übermäßig freundlich.
Ihr Blick irrte umher, ihre Hände wussten plötzlich nicht mehr, woran sie sich festhalten sollten. Widerstrebend trat sie zur Seite und ließ uns ein. Sie machte uns zu Ehren sogar Licht im dämmrigen Flur und führte uns in ein nicht übermäßig großes und sehr kühles Wohnzimmer, dessen Fensterfront nach hinten zum Garten ging. Trotz des novembertrüben Wetters waren die Rollläden halb herabgelassen. Über Nacht hatte der Himmel sich bezogen, und es sah nach einem Regen aus, der lange nicht wieder aufhören würde. Die Einrichtung war eine gruselige Mischung aus modernem Design und altem Plunder.
Mit einer konfusen Bewegung wies die Hausherrin auf eine eckige Couch aus Chrom und schwarzem Leder. Ohne dass Vangelis und ich uns abgesprochen hatten, blieben wir stehen.
»Wo ist Ihr Sohn, Frau Jörgensen?«, fragte ich.
»Ich sagte Ihnen doch schon …«
»Auf Korfu ist er nicht.«
Für einen Moment sah sie mir verstört in die Augen, dann in eine Ecke, wo es nichts zu sehen gab.
»Ich …« Sie brauchte drei Anläufe, bis sie die vier Worte endlich herausbrachte: »Ich weiß es nicht.«
»Sie wissen es nicht?«
»Er ist verschwunden.«
»Seit wann?«
»Seit vier Wochen. Ungefähr.«
»Etwas genauer, vielleicht?«
»Seit September. Dem einundzwanzigsten September.«
»Das sind sechs Wochen.«
Der Blick der Mutter blieb hartnäckig abgewandt. Ihre Hände waren in ständiger Unruhe, das Gesicht eine Alabastermaske. Für einen Moment fürchtete ich, sie würde zusammenbrechen.
»Sie haben doch nichts dagegen, wenn ich ein wenig Licht hereinlasse?« Ohne die Antwort abzuwarten, machte sich Vangelis daran, die Rollläden hochzuziehen.
Der große Garten, in den man durch die breite Glasfront blickte, wirkte ungepflegt. Niemand schien hier Spaß am Rasenmähen oder Unkrautjäten zu haben. Den einzigen Schmuck bildeten am hinteren Ende des Grundstücks zwei große und auch jetzt, Anfang November, noch üppig weiß blühende Rosenbüsche.
»Ich habe wohl ein wenig …«, murmelte Frau Jörgensen. »Verzeihen Sie … das Zeitgefühl verloren.«
Bei meiner nächsten Frage legte ich etwas mehr Milde in die Stimme:
»Warum haben Sie Ihren Sohn denn nicht als vermisst gemeldet?«
Sie fuhr sich mit der Rechten über die Stirn, als müsste sie grauenerregende Bilder verscheuchen. Von oben hörte ich ein leises Geräusch. Dann war es wieder still. Irgendwo tropfte hartnäckig ein Wasserhahn. Eine hässliche schmiedeeiserne Uhr tickte blechern an der Wand.
»Ich … ich konnte einfach nicht.« Die letzten Worte wären um ein Haar in einem Schluchzen untergegangen. Aber sie fing sich wieder. Schluckte, atmete einige Male so heftig ein, als wollte sie gleich ihren ersten Kopfsprung vom Dreimeterbrett machen. »Verstehen
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