Alexander Gerlach - 05 - Echo einer Nacht
Cocktail mit unaussprechlichem Namen und schien meine Anwesenheit in der nächsten Sekunde vergessen zu haben.
Es gibt Momente, in denen verstehe ich, wie ein Mensch zum Mörder werden kann.
Einmal mehr hatte ich miserabel geschlafen. Dabei hatte ich mir vor dem Zubettgehen sogar zur Beruhigung noch ein Gläschen Rotwein gegönnt und ein wenig Paolo Conte gehört. Dennoch hatte ich die halbe Nacht wach gelegen und Pläne geschmiedet, wie ich diesem Lackaffen von Privatschnüffler das Genick brechen würde.
Als Erstes würde ich heute einen Durchsuchungsbeschluss für seine edlen Büroräume erwirken. Ich hatte mir genügend Argumente zurechtgelegt, um Staatsanwaltschaft und Richter auf meine Seite zu bringen. In spätestens zwei Stunden würde ich mit einer Armada von Streifenwagen anrücken, mit viel, viel Blaulicht und noch mehr Uniformen. Nun blieb mir nur zu hoffen, dass Pretorius mir einen Grund lieferte, ihn in Beugehaft zu nehmen oder am besten gleich wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt in Handschellen zu legen und möglichst öffentlichkeitswirksam abführen zu lassen.
Bis es so weit war, saß ich jedoch in meiner zu kalten Küche bei einem ersten Espresso und versuchte, Zeitung zu lesen. Es dauerte eine Weile, bis ich den richtigen Abstand zwischen meinen Augen und dem idiotisch klein bedruckten Papier gefunden hatte, sodass ich auch ohne Brille etwas entziffern konnte. Ich wusste nicht, wo ich das ungeliebte Ding gestern Abend hatte liegen lassen, und war zu faul oder zu eitel oder zu wütend, danach zu suchen. Man soll seine Augen nicht verwöhnen, hatte ich irgendwo gelesen. Damals allerdings noch ohne Brille.
In der Nähe von Hannover war ein Kind entführt worden, ein Mädchen diesmal, vier Jahre alt. In Stralsund gestand eine Mutter vor Gericht unter Tränen, im Lauf der Jahre drei Neugeborene erstickt und in der Gefriertruhe versteckt zu haben. Und zwar, ohne dass ihr Mann irgendetwas bemerkt haben wollte. Selektive Wahrnehmung. Plötzlich schien die Welt voller Verbrechen gegen Kinder zu sein. Mir wurde minütlich kälter.
Um halb sieben wurde die Heizung warm, um zehn vor erschienen meine Töchter, musterten mich vorsichtig erstaunt und richteten sich schweigsam ihr Frühstück. Sie hatten sofort bemerkt, dass mit mir heute nichts anzufangen war, und diskutierten leise, ob ihre erste Villa eher in Florida oder in Santa Monica stehen sollte und wie groß der Pool sein müsste. Sie einigten sich schließlich darauf, sich sowohl im Osten wie im Westen der USA eine Residenz einzurichten, wenn ihre erste Platte erst einmal die Charts der Welt gestürmt hatte. Ich beneidete sie um ihre Jugend, um ihre Träume, um ihre Überzeugung, die Welt sei ein grandioser Abenteuerspielplatz und sie selbst die erste Generation, die alles richtig machen würde.
Später verabschiedeten sie sich mit kühlen Küsschen auf die Wange und zweifach hingemurmeltem »Tschüssi, Paps!«.
Vor halb neun hatte es keinen Sinn, die Staatsanwaltschaft zu behelligen. So ging ich duschen und machte mir anschließend einen zweiten Espresso. Als das Tässchen auf dem Tisch stand, brummte mein Handy, das daneben lag, und drehte sich aufgeregt im Kreis.
Pretorius war auf dem Display zu lesen.
»Was wollen Sie?«
»Keinen Krieg. Ich will nicht leugnen, dass ich Sie nicht ausstehen kann. Aber ich habe auch kein Interesse an einer Dauerfehde.«
»Nett zu hören.«
»Jetzt spielen Sie nicht die beleidigte Leberwurst. Sie machen Ihren Job, ich mache meinen. Da kann es schon mal passieren, dass man sich in die Quere kommt.«
Mein Daumen lag schon auf dem roten Knopf. Aber dann zögerte ich. Rache war keine Lösung, sondern die Verlängerung der Schlacht mit anderen Mitteln. Ich nahm das Handy wieder ans Ohr.
»Lassen Sie hören«, sagte ich mit allem Desinteresse, dessen ich fähig war.
»Ich darf und werde Ihnen nicht sagen, was Frau Jörgensen von mir wollte. Aber eines sollen Sie wissen: Es hat nichts mit ihrem Sohn zu tun. Dass das Kind vermisst wird, habe ich gestern Abend zum ersten Mal gehört.«
»Sie hat Ihnen gegenüber wirklich nichts davon erwähnt?«
»Keine Silbe. Großes Indianerehrenwort!«
»Und das ist alles, was Sie zu sagen haben? Nicht noch irgendein Tipp? Eine kleine Andeutung vielleicht?«
»Sie sind vielleicht eine Zecke«, ächzte Pretorius. »Aber okay, als Zeichen meines guten Willens: Es war was völlig Banales. So banal, dass ich mich bis heute wundere, wieso sie ohne jede Diskussion
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