Alexander Gerlach 09 - Das vergessene Maedchen
ihrer üblichen Taktik in ein Einfamilienhaus in Dossenheim eingedrungen. Dieses Mal hatten sie allerdings Pech gehabt. Das Haus war nicht leer gewesen, wie die Täter offenbar vermutet hatten. Sie waren auf die dreizehnjährige Tochter der Familie getroffen, die wegen Verdacht auf Mumps das Bett hüten musste. Das Mädchen war mächtig erschrocken, und die drei Einbrecher waren sofort und ohne Beute geflohen. Trotz des Schrecks war das Kind imstande, erstaunlich gute Personenbeschreibungen abzugeben. Sven Balke und Evalina Krauss waren in Begleitung einer Kollegin vom Erkennungsdienst in Dossenheim, um Phantombilder anzufertigen, solange die Erinnerung noch frisch war. Selbst den Wagen der Täter konnte das aufgeweckte Kind beschreiben: ein schlammgrau lackierter Kastenwagen, der in der Nacht zuvor vom Parkplatz eines Elektrofachgeschäfts in Germersheim verschwunden war.
Zum ersten Mal hatten wir etwas, was den Namen Spur verdiente. Das wussten die Täter natürlich. Sie würden nervös werden. Und wer nervös ist, der macht Fehler.
»Sind Sie jetzt endlich der Richtige?«, fuhr mich eine aufgebrachte Frauenstimme am Telefon an. »Sind Sie der Kripoboss?«
Inzwischen war es Nachmittag geworden. Ich bejahte vorsichtig.
»Den halben Tag telefonier ich mir schon die Finger wund und lass mich von Pontius zu Pilatus verbinden. Und ich hab weiß Gott Besseres zu tun …«
»Worum geht es denn?«
»Ich hab letzte Woche schon bei euch angerufen«, zeterte die wütende Frau, die ihren Namen noch immer nicht genannt hatte. »Am Donnerstag! Ihr Kollege hat alles aufgeschrieben und gesagt, er meldet’s umgehend weiter, und nichts ist passiert!«
»Worum geht es denn?«, wiederholte ich meine Frage nun schon leicht gereizt.
»Um einen jungen Mann geht’s, den wir hier seit fast einer Woche auf der Station liegen haben.«
Ich setzte mich aufrecht hin. »Von wo rufen Sie an?«
»Krankenhaus Zum Guten Hirten in Ludwigshafen, Abteilung Inneres. Der Patient hat keine Papiere dabeigehabt, wie sie ihn gebracht haben. Und er ist immer noch bewusstlos. Erst hab ich Ihre Kollegen hier in Ludwigshafen angerufen. Die haben gesagt, ich soll mich an Heidelberg wenden. Angeblich vermissen Sie einen jungen Mann.«
»Wann genau ist der Patient eingeliefert worden?«
»In der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag. Ein Schiff hat ihn gebracht, haben mir die Sanis erzählt, ein Holländer. Die haben den Burschen einfach im Hafen abgeliefert, mitten in der Nacht, und anschließend gleich wieder abgelegt.«
»Ein Schiff?« Hafen, Schiff, Henning, schoss mir durch den Kopf.
»Eines von diesen Megacontainerschiffen. Es ist mitten in der Nacht gewesen, und die Sanis haben in der Hektik vergessen zu fragen, wo die Leute den Patienten aufgelesen haben. Wie er aussieht, haben sie ihn irgendwo aus dem Rhein gefischt. Er hat eine böse Kopfverletzung und liegt im Koma. Muss im Wasser mit irgendwas zusammengekracht sein.«
Eine Viertelstunde später war es amtlich: Der Unbekannte im Ludwigshafener Krankenbett war Henning. Seine Kopfverletzung war vermutlich nicht die alleinige Ursache seiner anhaltenden Bewusstlosigkeit, erklärte mir eine muntere Oberärztin, mit der ich telefonierte. Sie meinte, Henning sei vielleicht schon halb ertrunken und möglicherweise unterkühlt gewesen, als die Schiffsbesatzung ihn – wahrscheinlich schon am Dienstag – aus dem Wasser zog. Weshalb seine Retter ihn erst anderthalb Tage später ins Krankenhaus brachten, war uns beiden schleierhaft.
»Die Leute hätten ja einfach die Wasserschutzpolizei alarmieren und den Verletzten auf dem Rhein übergeben können«, meinte die Ärztin. »Aber die Schiffsführer stehen natürlich unter enormem Zeitdruck.«
»Wie geht es ihm?«
»Sein Zustand ist stabil, aber wir können im Moment nicht viel für ihn tun. Wir müssen warten, bis er aus dem Koma erwacht. Inwieweit sein Gehirn in Mitleidenschaft gezogen wurde, wird man dann sehen.«
Die »Henriette Buyten« war das einzige holländische Containerschiff, das am Tag von Hennings Verschwinden in Kehl abgelegt hatte, erfuhr ich vom zuständigen Menschen in der dortigen Hafenverwaltung, einem schläfrigen Alemannen, der nach jedem dritten Wort gähnte. Er vermutete, das Schiff liege zurzeit in Rotterdam auf Reede, um neue Fracht zu laden, und konnte mir die Handynummer des Schiffsführers nennen. Unter der Nummer meldete sich ein hektischer junger Mann, der weder Deutsch noch Englisch verstand. Erst auf das Wort
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