Alexander in Asien: Alexander 2 (German Edition)
zerschneiden, um nach außen zu gelangen; in den Augen war etwas wie die übergroße Flamme, die fast alles Öl verzehrt hat und nach dem letzten Lodern den Docht verlassen wird. Dymas’ Erlebnisse, sein Schwanken, seine Zweifel und Nöte, seine und Tekhnefs Musik in thessalischen Schänken, derlei berührte den Makedonen kaum. Zu viele Fragen, zu wenige Stunden, ehe der Philosoph in die Schatten eingehen würde.
Andererseits ... Von den Rollen, den kostbaren, allzuvielen Rollen, die Aristoteles ihm zu lesen und wahrscheinlich zu behalten gegeben hatte, irrte sein Blick zu den anderen, die der Verbrennung harrten, und dann zum Hals des Philosophen. Im stickigen Halbschatten war die feine Kette kaum zu sehen.
»Immer noch das Amulett?« Aristoteles’ Stimme kam wie eine rauhe Bö, an Klippen zerschellt und zu Windsträhnen geborsten. Pythias, von der Mühsal der Tage, der Nachtwachen und des Kummers überladen, bewegte sich unruhig im Schlaf, wachte jedoch nicht auf.
»Immer noch, immer wieder. Ich las eben von Antipatros’ Ausruf, ehe dieser Händler aus Nikaia über Halikarnassos redete. Was hat es denn nun damit auf sich?«
»Später, später. Du bist noch zu früh in der Geschichte der Dinge und Menschen, um die Größe und Nichtigkeit dieses Geräts zu erfassen.« Die Hand tastete nach der Kette; die Finger zitterten, als Aristoteles das ankh mit dem Auge des Horos hervorholte. »Dymas hat das Rätsel gelöst, aber es war ihm keine Freude. Mein bisweilen scharfzüngiger, bisweilen dümmlicher Neffe hätte sein Vergnügen daran gehabt, aber er lebte nicht mehr.«
»Kallisthenes? So spät ist das Amulett erklärt worden?«
»So spät, ja. Aber Kallisthenes hatte an vielen Dingen sein Vergnügen; sein Ende wäre weder bitterer noch ersprießlicher gewesen, wenn er gewußt hätte.«
»Hat er wirklich zwei Fassungen, zweierlei Berichte über die Vorgänge nach Hellas geschickt?«
Aristoteles ließ das Amulett fallen; es lag auf dem Fell, das ihn bis zum Hals bedeckte. »Oft; manchmal nur eine, manchmal auch drei. Seine Beweggründe waren nicht immer eindeutig zu ermitteln. Er hat die Wahrheit so gründlich verbogen, daß heute in ganz Hellas niemand etwas anderes glauben mag als das, was er in Umlauf brachte.«
Peukestas zwinkerte. »Die Worte der heimkehrenden Krieger sollten doch ausreichen, das eine oder andere zurechtzurücken, oder?«
»Wen kümmern die zweifellos entstellenden, unzuverlässigen Berichte alter Kämpfer, wenn längst die wahre Wahrheit bekannt ist, verfaßt von einem namhaften Hellenen?« Aristoteles hustete; wahrscheinlich sollte es ein schwaches Gelächter sein. »Und wen, frage ich dich, wird es in der absehbaren Endlichkeit der Zukunft bekümmern, ob Parmenion die Schlacht am Granikos gegen Alexanders Willen aufschob oder nicht? Ob Alexander in Gordion den Knoten zerschlug oder nicht? Ob Parmenion ihn nach der Schlacht bei Issos an der Verfolgung des fliehenden Großkönigs hinderte oder nicht?«
»Geschichten!« Peukestas beugte sich vor; einen Moment war er versucht, die Hände zu ringen. »Geschichten, Aristoteles, die ich nicht kenne – ich, der ich dabei war! Ich weiß, daß Alexander den Knoten nicht zerschlagen hat, daß er Dareios nicht verfolgen wollte! Aber ich wußte bis jetzt nicht, daß diese ... Märchen, Lügen, in Hellas umlaufen!«
Aristoteles hob eine Braue. »Erregung führt zu nichts, mein junger Freund. Bedenke: Kallisthenes hatte eine Aufgabe. Wie auch Harpalos.«
»Harpalos?«
»Später, später. Die Aufgabe meines unrühmlichen Neffen war es, den Hellenen einen strahlenden Heros zu zeigen, einen Halbgott – nicht die mehr oder minder wichtigen Sachverhalte. Die richtigen oder falschen Entscheidungen eines makedonischen Strategen? Unwichtig, für Hellas. Nicht die Tatsachen zählen, sondern die großen Gebärden. Wenn es keine gab, hat er sie erfunden; manchmal, wenn er die Gebärden mißbilligte oder nicht richtig verstand, hat Kallisthenes auch eine dritte Fassung gemacht. Die erste, an mich, berichtete durchaus trocken über die Vorgänge. Die zweite, für Hellas, bauschte alles ins Übermenschliche auf. Die dritte, für bestimmte Freunde in Hellas und nebenbei auch für mich, verzerrte die zweite ein wenig, ließ gewissermaßen hinter dem Heros einen zwielichtigen daimon erscheinen.«
»Ich werde euch Hellenen nie verstehen«, knurrte Peukestas. »Ausgerechnet du, als Sammler von Tatsachen ...«
Aristoteles lachte schwach. »Aber ich rede nicht
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