Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Alexandra von Stietencron Bd. 1 - Purpurdrache

Alexandra von Stietencron Bd. 1 - Purpurdrache

Titel: Alexandra von Stietencron Bd. 1 - Purpurdrache Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sven Koch
Vom Netzwerk:
zwischen sanften, bewaldeten Hügeln, bewehrt von einer groben Staumauer, die in den späten vierziger Jahren das Ziel eines vergeblichen Angriffs britischer Bomber gewesen war. Zudem eines ziemlich unsinnigen, wie in der Stadtchronik Lemfelds nachzulesen war, die Helen Alex zum Dienstantritt geschenkt hatte: Die Anlage speiste keinerlei Kraftwerke oder Fabriken. In den frühen dreißiger Jahren war der See im Rahmen der »Kraft durch Freude«-Bewegung ausschließlich zur Freizeitgestaltung angelegt worden, was dem britischen
Bomber Command
entgangen sein musste. Die aus niedriger Höhe abgeworfenen
Dam Busters
verfehlten jedoch ihr Ziel und töteten jenseits der Staumauer lediglich eine Herde Kühe. Auch heute wurden die nahe Lemfeld stationierten britischen Soldaten der Rheinarmee wegen des Vorfalls spaßhaft als Cowkiller bezeichnet.
    Zu dem Naherholungsgebiet rund um den See gehörten etliche Radwege, vom Landessportbund ausgezeichnete Nordic-Walking-Strecken und Wanderwege, die an Hünengräbern entlangführten. Einmal im Jahr verwandelte sich der See in ein Meer aus bunten Lichtern, wurde zum »Stausee in Flammen« – einem der größten Feste der Region. Die Plakate in den Restaurants rund um den See und in der Tourist-Information kündigten das Event bereits an, das immer exakt einundzwanzig Tage nach der großen Sommerkirmes stattfand, für die unten in der Stadt auf dem Nicolaitor-Platz der Aufbau bereits in vollem Gange war.
    Alex kannte die Pisten rund um den See recht gut. Sie war sie bereits einige Male gelaufen und hatte die Atmosphäre genossen sowie die zahllosen Villen nahe des Ostufers bewundert. Im Augenblick hatte sie allerdings keinen Sinn für die Schönheit des sommerlichen Waldes oder das Spiel des Sonnenlichts auf den Wellen. Vielmehr konzentrierte sie sich darauf, im Laufschritt nicht an einer Wurzel hängenzubleiben und gleichzeitig Marlon Kraft nicht aus den Augen zu verlieren, der einige Meter vor ihr wie ein Querfeldeinläufer durch das knisternde Laub joggte und zielstrebig auf eine alte Wehranlage zusteuerte. Alex fluchte und schimpfte innerlich auf Mario Kowarsch, den sie mehrmals vergeblich zu erreichen versucht hatte. Wahrscheinlich hatte der Idiot das Telefon im Auto liegengelassen und stritt sich im Wartezimmer oder sonst wo mit seiner schwangeren Freundin. Nun ja, früher oder später würde er sehen, dass sie ihn zu erreichen versucht hatte, und sich melden. Ewig konnte sein Besuch beim Arzt ja nicht dauern. Alex blieb stehen und zog die Schuhe aus. Mit den verdammten Absätzen hatte das in dem Gelände keinen Sinn.
    »Kraft! Warten Sie!«, rief Alex, wohl wissend, dass er keine Rücksicht auf sie nehmen würde. Sie nahm die Schuhe in die Hand und rannte weiter, kam aber auch nicht wesentlich schneller vorankam, weil ihr kleine Äste und Bucheckern in die Fußsohlen stachen. Während sie über einen umgestürzten Baum sprang, sah sie, wie Kraft das Tempo reduzierte. Er ging auf das Wehr zu, schien etwas zu suchen, schritt dann auf den Steg und starrte in ein Boot, das daran festgemacht war. Seine Brust hob und senkte sich vom schweren Atmen, und auch Alex keuchte, als sie den Steg betrat, sich auf einen Pfosten setzte und die Holzkrümel und Blattreste von den Fußsohlen strich.
    »Darf ich jetzt endlich erfahren«, fragte sie und schlüpfte wieder in die Schuhe, »was wir hier machen?«
    Kraft starrte wieder in das Boot, zurück zum Wehr, auf den See und schließlich auf das Handy, das er die ganze Zeit über wie einen Geigerzähler vor sich hergetragen hatte.
    »Das alte Wehr – ich habe es sofort wiedererkannt. Jeder Junge hier kennt es. Es wird sicher heute noch so genannt wie früher: die sieben Löcher. Es hat sieben Öffnungen. Keiner weiß, wozu es mal gedient hat, aber das hat auch nie jemanden interessiert. Wahrscheinlich ist es ein Überlaufsystem oder ein Rückhaltebecken. Die Öffnungen da in dem Bruchmauerwerk führen tief in den Hang hinein. Hier konnte man wunderbar spielen, es war eine Mutprobe, da hineinzukriechen. Da drin ist alles voll mit Spinnen und Moder.«
    Er zog seine Zigarettenschachtel aus der Hosentasche und zündete sich eine an. »Wir haben uns vorgestellt, da läge eine Leiche drin, die einen packt und hinabzieht. Irgendetwas Unaussprechliches, Uraltes und unsagbar Böses konnte dort hausen – das Gegenteil war jedenfalls nie bewiesen worden. Deswegen bin ich auch nie allzu weit reingekrochen. Noch nicht mal für Ahoi-Brause, Esspapier oder

Weitere Kostenlose Bücher