Alexandra von Stietencron Bd. 1 - Purpurdrache
Wir haben uns gestritten.« Kraft hatte die Folie zerschnitten. Legte die Schere beiseite und öffnete den Deckel. Alex war baff über seine Offenheit. Mit jedem Wort brachte er sich mehr in Schwierigkeiten, denn die Tatsache, dass es Streit gegeben hatte, war ein mögliches Motiv. Entweder war er sich dessen nicht bewusst, oder es war ihm gleichgültig. Vielleicht ging er davon aus, dass Angriff die beste Verteidigung war.
»Was danach passiert ist, weiß ich nicht«, fuhr er fort. »Ich verfluche den Moment, in dem ich Sandra gesagt habe, sie solle gehen. Wäre sie geblieben, wäre das alles vielleicht nicht passiert.«
»Worüber haben Sie gestritten?«
Kraft zog zusammengeknülltes Zeitungspapier aus dem Päckchen. »Sie wollte Liebe. Ich wollte Sex. Darum ging es. Als sie weg war, hatte ich wieder eines dieser Blackouts …«
»Blackouts?«
Kraft nickte und durchwühlte die Schachtel. »In psychischen Stress-Situationen knicke ich seit dem Vorfall in dem Kindergarten gelegentlich mal weg. Liegt an dem Trauma, sagt meine Psychologin, und hat wohl auch etwas mit dem C- 12 und meiner Kopfverletzung zu tun. Ich habe Sandra also nicht aus dem Fenster hinterhergesehen und bin ihr nicht die Treppe hinterhergelaufen – zumindest nicht, dass ich mich daran erinnern könnte. Und ich weiß deshalb nicht, ob sie auf der Straße …«
Endlich hatte Kraft den Inhalt des Päckchens gefunden. Er hielt ein silberfarbenes Nokia-Handy in den Fingern und betrachtete es erstaunt von allen Seiten.
»Was ist das jetzt?«, flüsterte er.
»Ja. Erstaunlich, nicht?«, sagte Alex schnippisch. »Man kann damit telefonieren. Es nennt sich Handy.«
»Das muss mein Handy sein. Es wurde mir neulich gestohlen«, sprach Kraft wie zu sich selbst und bediente mit dem Daumen einige Tasten. »Es ist mein Handy. Kein Zweifel. Aber hier liegt eine Datei drauf, es …«
Blechern rauschte es aus dem Lautsprecher des Telefons, als Kraft mit einem Daumendruck ein Audio- oder Video-Format abspielte. Alex streckte den Kopf, konnte aber nichts erkennen. Dafür nahm sie umso deutlicher wahr, welcher Film sich auf der Miene des Reporters abzeichnete. Seine Kiefer mahlten, die rotgeränderten Augen waren weit aufgerissen. Die Nasenflügel bebten. Die Farbe wich aus dem Gesicht, als hätte jemand einen Stöpsel gezogen. Ein Seufzer entfuhr seinen Lippen. Zu dem Rauschen, das aus dem Gerät klang, gesellte sich nun Knacken wie von brechenden Ästen. Und dann Schreien. Ohrenbetäubend drang es verzerrt aus dem Lautsprecher. Alex zuckte zusammen. Kraft sprang auf, schaltete den Clip aus und ging mit großen Schritten zu seiner Bürotür.
»Was war das? Und wo wollen Sie hin«, fragte Alex.
»Ich …«, antwortete Kraft fahrig und mit zitternder Stimme, »… ich muss da sofort hin. Ich weiß, wo das ist …«
»Nein! Sie bleiben hier, verdammt, und sagen mir …«, aber Kraft schüttelte nur dem Kopf und wiederholte: »Ich muss dahin. Sofort.« Er rannte aus der Tür und lief über den Flur auf den Fahrstuhl zu.
»Kraft!«, rief Alex ihm hinterher, aber er reagierte nicht. Jetzt sprang sie ebenfalls auf. Sie durfte nicht zulassen, dass er verschwand. Nicht nach dem, was er ihr erzählt hatte. Und selbstverständlich musste sie klären, was da gerade geschehen war. Wo blieb dieser Penner Mario? Instinktiv griff sie nach ihrer Handtasche, in der sich ihr Handy befand. Mario anrufen. Aber auf dem Flur näherte Kraft sich schon der Fahrstuhltür. Alex sah auf den Schreibtisch. Das Paket. Sie musste es sichern. Aber es würde nicht weglaufen können. Im Gegensatz zu Kraft. Alex klemmte sich die Handtasche unter den Arm und rannte ebenfalls aus der Tür. Sie erwischte Kraft, kurz bevor die Fahrstuhltür sich schloss, und stellte das Bein zwischen die zugleitenden Türen, die einmal mit einem kurzen Schmerz an ihr Kniegelenk prallten, um sich dann wieder zu öffnen.
»Wo immer Sie hinwollen«, keuchte sie beim Eintreten, »werden Sie mich mitnehmen, und Sie werden mir noch ein paar Fragen beantworten, weil ich Sie sonst auf der Stelle verhafte!«
Kraft nickte. Seine Haut war weiß wie Kerzenwachs. Am liebsten hätte Alex ihn vor das Schienbein getreten. »Entschuldigung, wenn ich das als Psychologin so platt sage, aber: Ihr Freund Marcus hat recht. Sie ticken echt nicht mehr richtig.«
Wieder nickte Kraft. »Ja«, sagte er leise. »Und genau das ist es, was mir langsam große Angst macht.«
[home]
36 .
D er Lemfelder See schmiegte sich anmutig
Weitere Kostenlose Bücher