Alexandra von Stietencron Bd. 1 - Purpurdrache
Es ging nicht ab, so sehr du auch geschrubbt und geschrien hast, es ging nicht ab …
Der Schuss zerriss die Stille mit einem lauten Krachen. Ein großes Stück Borke sprang von dem Baum neben Kraft ab. Er zuckte einmal zusammen und ging dann unbeirrt weiter.
Nein, verdammt, der Mistkerl hatte recht gehabt. Sie konnte es nicht. Vielleicht würde sie es nie können. Und was würde es ändern? Kraft könnte jederzeit per Handy-Ortung gefunden werden, und bei allem hatte er nicht den Eindruck gemacht, als würde er fliehen wollen. Er hatte etwas anderes vor, und sie, ja, sie hatte sich etwas vorgemacht. Vielleicht hatte sie für einen Moment gedacht, mit einem Mal könne sich all ihr Hass zu einer Kugel formen und auf Kraft konzentrieren. Was hatte ihr Vater immer wieder gesagt? »Du wirst Benji nicht wieder lebendig machen, Kleines, nur weil du andere Mörder jagst.« Ja. So war es. Und sie durfte keinen Mann für seinen Tod bestrafen, der noch nicht einmal von Benji wusste. Sie wollte Gerechtigkeit, Gerechtigkeit für seinen Tod, und wäre dabei um ein Haar von ihrem Pfad abgewichen. Sie hatte Kraft zum Mörder erhoben, obwohl sie von Anfang an nicht von seiner Schuld überzeugt gewesen war – selbst, als alles auf ihn hinzudeuten schien. Und da gab es schließlich noch Roman König und Ludger Siemer. Alles war möglich. Und auf der anderen Seite hatte ihr Ehrgeiz gestanden, Marcus einen Erfolg zu präsentieren – und dazu hatte sie sich eben in dem dunklen Abfluss ausgerechnet den als Trophäe ausgesucht, den Marcus am meisten zu schützen suchte.
Alex warf die Pistole auf den Boden und ließ sich in das Laub fallen. Sie konnte das Schluchzen nicht aufhalten, und die Tränen liefen ihr über die Wangen. Vielleicht war sie all dem nicht gewachsen. Vielleicht überschätzte sie sich maßlos.
Und jetzt reicht es mit dem Selbstmitleid, Clarice, so wirst du Buffalo Bill niemals fangen …
Alex setzte sich auf, rieb sich mit den Handballen die Augenwinkel trocken und zupfte ein paar welke Blätter von den Beinen ab. Sie atmete tief durch. Eine Frau war verschwunden. Der Purpurdrache hatte sie sich geholt. Vielleicht lebte sie noch. Sie musste gefunden werden. Nur darum ging es jetzt. Geräuschvoll zog Alex die Nase hoch. Weit entfernt hörte sie einen Motor aufheulen. Dann wurde es wieder still.
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39 .
W eißt du, was das Schlimmste ist?«
Alex schüttelte den Kopf, während sie neben Reineking die Treppen in dem weißgetünchten Flur des Geschäftsgebäudes nach oben hastete, in dem neben Ärzten auch Rechtsanwälte und eine Privat-Lotto-Firma residierten.
»Du hättest es besser wissen müssen. Immer nur zu zweit. Haben sie dir auf der Uni nicht beigebracht, was?«
Solche Belehrungen hatten ihr gerade noch gefehlt. Hier und jetzt und sowieso. Dass es ein grober Schnitzer gewesen war, Kraft alleine zu verfolgen, wusste sie selbst. Die Grundregel, aus Sicherheitsgründen und um stets einen Zeugen dabeizuhaben immer nur im Team aufzutreten, gehörte zu den Basics der Polizeiarbeit. Aber was hätte sie denn machen sollen? Und wer hätte wissen können, dass sich die Stippvisite in der Redaktion so entwickeln würde, wie sie es getan hatte? Vor allem: der bescheuerte Kowarsch. Sie hatte Mario inzwischen sicherlich fünfmal auf dem Handy weggedrückt, weil sie keine Lust auf seine Entschuldigungen und Beteuerungen hatte. Andererseits würde sie ihn auch nicht verpfeifen können. Marcus würde ihm sonst den Kopf abreißen.
Alex sparte sich eine Antwort. Sich mit Reineking auf eine Argumentation einzulassen war, wie einen Föhn vor einen Staubsauger zu halten: Im Ergebnis würde nur Energie verschwendet. Außerdem war er auf hundertachtzig, seit er aus Düsseldorf zurück war. Drei Stunden Fahrerei hin und zurück für eine stinkende Leiche statt für eine schicke Festnahme, zumal er von Beginn an Alex’ Theorie bezweifelt hatte, Siemer könnte als Tatverdächtiger in Frage kommen. Schönen Dank auch, Frau Gräfin.
Dass Siemer tot war, hatte Alex’ Theorie wie ein Kartenhaus zusammenfallen lassen – er schied als Täter definitiv aus. Dass er selbst ermordet worden war, entzog dem Kartenhaus jegliches Fundament. Nur in einem hatte sie recht behalten: Auch Siemer musste eine Rolle spielen. Andernfalls wäre er noch am Leben.
»Wenn ich an den ganzen Papierkram denke«, keuchte Reineking und verlangsamte seinen Gang, »könnte ich jetzt schon kotzen. Dieser ganze Scheiß passiert viel zu schnell. Ich
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