Alexandra von Stietencron Bd. 1 - Purpurdrache
»Vielleicht machen wir eine Straßenumfrage, in der ein paar Omas sagen, dass sie sich jetzt nicht mehr sicher fühlen, und ein paar Opas erzählen, dass sie niemals gedacht hätten, dass so etwas hier passiert und dass es das unter dem Führer nicht gegeben hätte.«
Eddie, Nachrichtenchef Heinz Flaskämper, Micha und die Jungs vom Sport lachten. Roloff setzte ein mitleidiges Lächeln auf.
»Ich dachte eher an ein Feature. Etwas vom Feeling her Passendes«, sagte Hellmann ernst.
Marlon setzte sich aufrecht hin und verschränkte die Arme vor der Brust. »Hm, mal sehen. Vielleicht finde ich ja was bei eBay. Welche Größe?«
Wieder lachten alle bis auf Hellmann.
»Mir schweben hundert Zeilen und ein vierspaltiges Bild vor«, antwortete der Lokalchef trocken.
»Mit Mayo?« Der Schlagabtausch begann Marlon Spaß zu machen. Vor allem lenkte er ihn ab. Deswegen bedauerte er es fast, als Roloff dazwischenfunkte.
»Wir werden sehen, was der Tag bringt. Das war’s erst mal. Ich wünsche einen schönen Arbeitstag.«
In Marlons Büro sah es ebenso chaotisch aus wie in seiner Wohnung. Auf dem Schreibtisch stapelten sich Unterlagen, Pressetexte und vollgeschriebene Notizblöcke der letzten zwei Jahre. Leere Mineralwasserflaschen, Kaffeetassen und Aschenbecher standen herum. An den Wänden hingen verstaubte Fotografien aus seiner Düsseldorfer Zeit, die Marlon mit prominenten Interviewpartnern wie Henry Maske, Gina Wild, Dieter Bohlen oder Ulrich Wickert zeigten. Sein Mac war von oben bis unten mit bunten Stickern beklebt und die Tastatur hoffnungslos verschmutzt.
Marlon klickte sich durchs Internet und notierte sich einige Telefonnummern. Er rief bei seiner Psychologin Viviane an, um für den gleichen Tag einen Termin bei ihr zu machen, bekam aber natürlich einen Korb von der Sprechstundenhilfe. Erst als er es als Notfall bezeichnete, weil er neue Medikamente brauche und kurz mit ihr persönlich sprechen müsse, gab sie ihm fünfzehn Minuten für den späten Nachmittag. Der nächste Termin war noch weitaus schwieriger zu bekommen.
Das Luisenstift war eine psychiatrische und psychotherapeutische Privatklinik, in einem Barockpark draußen am Stausee gelegen. Sie war Ende des neunzehnten Jahrhunderts von einer Fürstentochter als Erholungsheim für sozial Schwache gegründet worden und glich äußerlich mehr einer Villa aus der Gründerzeit als einem Krankenhaus. Heute war sie ein Sanatorium für gut Betuchte mit ausgezeichnetem Ruf und beherbergte ein Forschungsinstitut der Universität. Wie Marlon herausgefunden hatte, wohnte seit einigen Monaten ein besonderer Gast im Luisenstift, in dem es sich sicherlich weitaus angenehmer leben ließ als in der Forensischen Psychiatrie in Lippstadt-Eickelborn. Zwei Jahre hatte Jürgen Roth nach seiner Geiselnahme in dem Kindergarten dort eingesessen. Mit der Auflage einer weiteren stationären Therapie war er entlassen worden. Roths Eltern, mit einem Saatgutunternehmen reich gewordene Landadelige, wollten ihren Sprössling in ihrer Nähe wissen und finanzierten deshalb den kostspieligen Aufenthalt im Luisenstift. Das alles hatte Marlon in seinen nächtlichen Recherchen herausgefunden.
Schon im zweiten Anlauf gelang es Marlon, den neuen Leiter der Klinik an den Apparat zu bekommen, dem er bei irgendeinem Anlass auch einmal persönlich vorgestellt worden war. Er hatte den Mann noch klar vor Augen. Dr. Reinulf Engberts war eine Koryphäe auf dem Gebiet der Psychologie und Neurologie und hatte vor einigen Jahren für seine Forschungen sogar den Leibniz-Preis erhalten – die am höchsten dotierte Auszeichnung für Wissenschaftler in Deutschland.
Erwartungsgemäß zierte sich Engberts. Der renommierte Psychiater berief sich natürlich zunächst auf mangelnde Zeit. Zudem betonte er mehrfach, dass er ein Aufeinandertreffen von Marlon mit Roth angesichts der gemeinsamen Erlebnisse für therapeutisch höchst fragwürdig halte. Aber Marlon hatte im Lauf der Jahre die Fertigkeit entwickelt, seine Gesprächspartner geschickt dazu zu bewegen, Dinge zu tun, die sie eigentlich gar nicht wollten. Nachdem er geschildert hatte, warum er heute Nachmittag ein Gespräch mit Roth oder zumindest über ihn führen wollte, warf er die Angel aus: »Sehen Sie, das Interesse ist nach wie vor groß, und bald jährt sich der Vorfall in dem Kindergarten wieder. Es ist bekannt, dass Roth niemandem etwas tun wollte – und keiner weiß das besser als ich. Jetzt, da es ihm dank Ihrer ausgezeichneten
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