Alexandra von Stietencron Bd. 1 - Purpurdrache
ein Unterverzeichnis mit neuen Dateien. Engberts überflog die in Englisch verfassten PDF mit dem Logo des US -Militärgeheimdienstes NSA und lud schließlich den angehängten Film-Clip von der Operation auf den Bildschirm. In dem kleinen Quicktime-Player tauchten grün-schwarze Videobilder auf, die von einer am Helm eines Soldaten montierten Kamera mit Restlichtverstärker stammten und – so besagten es die Berichte – in Falludscha im Irak während des nächtlichen Einsatzes eines Delta-Teams gegen ein mutmaßliches Terroristennest aufgenommen worden waren. Engberts betrachtete die Bilder mit wachsendem Grauen und schaltete den Ton aus, als das Schießen und Schreien begann. Dann stoppte er den Clip mit einem Mausklick und rieb sich die Schläfen. Er hatte kein Interesse daran, die praktische Anwendung des Projekts weiterzuverfolgen. Er war Wissenschaftler und kein Soldat. Die angefügte Dokumentation und die medizinischen Untersuchungsergebnisse zogen ein äußerst zufriedenstellendes Ergebnis für
Rosebud.
Nur darauf kam es an.
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14 .
A lex blinzelte, als ihr die grellweiße Fassade der Fachhochschule in der prallen Sonne des frühen Mittags entgegenstrahlte. Scheinbar unbeeindruckt schritt Marcus neben ihr über den großen, menschenleeren Platz auf das bemerkenswerte Gebäude zu. Es waren Semesterferien und der Campus völlig verlassen. Nur das leise Surren von Generatoren drang durch die Hitze. In den frühen siebziger Jahren mochte die FH , an der hauptsächlich Bauingenieure und Innenarchitekten, Lebensmitteltechnologen sowie Maschinenbauer ausgebildet wurden, ein beachtliches Monument zeitgenössischer Architektur abgegeben haben mit ihrer kubischen Fassade und den Betonsäulen mit den geometrischen Mustern vor dem Haupteingang. Der Haupttrakt sah aus, als hätte ein Kind weiße Kartons verschiedener Größe zu einem Turm aufgeschichtet, und der Platz davor, als hätte ihn ein Op-Art-Künstler wie Victor Vasarely mit Geraden, endlosen Diagonalen und strengen Mustern pflastern lassen, um der Fläche Tiefe zu verleihen. Schon von außen wirkte alles technisch und kalt, und dieser Eindruck setzte sich im Inneren fort. Hier war es tatsächlich kühl, und Alex fühlte sich wie in einem Krankenhaus, auf dessen langen Fluren ihre Schritte hallten.
Marcus war noch ruhiger als sonst. Stumm wie ein Fisch ging er neben ihr her. Als Reineking die Identität der Frau mitgeteilt hatte, schien sich bei ihm irgendein Schalter umgelegt zu haben. Alex überlegte, ob sie ihn danach fragen sollte, entschied sich aber dagegen. Vielleicht später. Vielleicht auch gar nicht. Jedenfalls war es recht schnell gegangen, bis die Gruppe um Reineking Sandra Lukoschiks Wohnung ermittelt hatte, tatsächlich lebte sie wie vermutet direkt in Lemfeld. Einige Polizisten hatten sich vor Ort umgehört und umgehend Marcus verständigt, nachdem sie herausgefunden hatten, mit wem sie zusammen war. Marcus hatte beschlossen, den Mann sofort aufzusuchen. Die Kollegen würden sich um Sandras Angehörige kümmern.
Roman König saß in einem großen, vollgestellten Raum. Orangefarbene Nivelliergeräte auf gelben Metallstativen standen neben rot-weiß gestreiften Messlatten und einem Bündel von ebenso gefärbten Spießen, deren Spitzen mit Erde verkrustet waren. An den Wänden hingen Landschaftspläne sowie der große Plotter-Ausdruck eines Luftbilds, das Wiesen und Felder zeigte und mit Linien, Kurven und Zirkelschlägen versehen war. König tippte auf einem Laptop, neben dem ein dicker Hefter mit langen Zahlenreihen lag. Er war so sehr in seine Arbeit vertieft, dass er Alex und Marcus noch nicht bemerkt hatte, obwohl die Tür zu dem Vorbereitungsraum laut in Schloss gefallen war.
»Herr König?«, fragte Marcus.
König zuckte zusammen und blickte wie ertappt über seine Schulter. Er mochte Mitte dreißig sein und trug Cargo-Shorts, ein kariertes Hemd mit aufgekrempelten Ärmeln sowie eine schwarze Hornbrille. Er war unrasiert, das lockige Haar fiel ihm in die Stirn und verlieh seinen markanten Zügen etwas Lausbübisches. Er klappte sofort sein Notebook zusammen und wandte sich ihnen zu. »Kann ich Ihnen weiterhelfen?«, fragte er mit sonorer Stimme, verschränkte die Arme vor der Brust und richtete sich in dem Drehstuhl auf. Genauso gut hätte er sagen können: »Ihr habt hier nichts zu suchen.«
Marcus zeigte mit routinierter Geste kurz seinen Polizeiausweis vor und ließ ihn dann wieder in der Tasche verschwinden.
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