nannte ihm die E-Mail-Adresse, deren Ursprung Heiko für ihn unter die Lupe nehmen sollte:
[email protected] Marlon verschränkte die Arme hinter dem Kopf, sah zum Fenster hinaus und massierte sich die Schläfen. Der Kopfschmerz zog vom Nacken mit dumpfem Druck herauf. Er hatte die ganze Nacht kein Auge zugetan. Marcus. Würde er ihn wegen der E-Mails anrufen müssen? Nein. Noch nicht. Er würde seinen Job machen. Marcus seinen. Zumindest diese Antwort hatte er in den frühen Morgenstunden gefunden. Denn trotz allem Schrecken verspürte Marlon das Kribbeln im Unterleib. Sein Jagdinstinkt war geweckt. Hinter allem würde eine Wahnsinnsstory stecken, so viel war klar. Die größte seines Lebens. Ein echter Überknüller. Mörder setzt sich mit Reporter in Verbindung. Er konnte sich die Geschichte einfach nicht kaputt machen lassen. Balance war gefragt, um sie sich nicht schon im Vorfeld mit unüberlegtem Handeln zu zerstören und schlafende Hunde zu wecken. Ja, er würde eine Weile auf des Messers Schneide agieren müssen. Aber das war es wert. Vielleicht könnte er noch das Porträt mit dieser schnippischen Kriminalpsychologin einschieben und sie bei der Gelegenheit ein wenig aushorchen.
Wie gut, dass Sandra mit ihrem neuen Freund auf Samos war. Aber seltsam war es doch. Sie hatte kein Wort über eine neue Beziehung verloren. Dass sie sich trotzdem mit Marlon getroffen und sogar Sex mit ihm gehabt hatte, konnte nur bedeuten, dass sie immer noch in ihn verliebt war. Allerdings hätte er sie niemals so eingeschätzt, dass sie ihren neuen Freund mit dem Ex betrügen würde.
Marlon schloss die Augen und versuchte, sich wieder auf das Wesentliche zu konzentrieren. Beim Gedanken an das, was ihm am Nachmittag bevorstand, fröstelte er. Seine Nervenenden wollten aus den Hautporen schießen, die Muskulatur verhärtete sich, Panik kroch durch seine Adern. Schnell begann er, gezielt zu atmen. Konzentriert auf den Körpermittelpunkt. So, wie Viviane es ihm beigebracht hatte. Das Gefühl ebbte ab. Nur ein Anflug, keine Attacke. Gut so. Es führte ohnehin kein Weg daran vorbei, einige Blicke hinter die Türen in seiner Erinnerung zu riskieren, die er eigentlich für immer verschlossen halten wollte. Marlon musste erfahren, was es mit Roths Geschichte vom Pupurdrachen auf sich hatte.
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13 .
E ngberts öffnete die schwere Metallkassette. Aus den Unterlagen zog er eine Kladde, die mit »Jürgen Roth« beschriftet war, legte die Kassette zurück in den Tresor, verschloss diesen wieder und legte die Akte auf den großen Eichenschreibtisch. Neben allerlei Daten verschiedenster Testreihen enthielt sie das Gutachten, das Engberts für die Gerichtsverhandlung angefertigt hatte. Auf dieser Basis war Roth in die Forensik eingewiesen worden und nach der Entlassung ins Stift unter seine Obhut gekommen.
Er war ein interessanter Kandidat. Wie geschaffen für das Projekt. Genau wie alle anderen, die Engberts ausgewählt hatte.
Engberts schlug den Ordner auf und überflog einige Seiten, um sich auf das Gespräch mit diesem Reporter vorzubereiten. Tatsächlich passte sein Besuch so gar nicht in den Terminplan – aber das war nun nicht von Belang. Die Option auf das Interview und Krafts Argumente bezüglich der noch ausstehenden Baugenehmigung wogen schwer. Der Anbau war ein Millionenprojekt, da durfte nichts schiefgehen. Zudem hatte Engberts die einmalige Gelegenheit, alles nach seinen Wünschen ausgestalten zu können. Dieses Entgegenkommen war das mindeste, was er von der Geschäftsführung verlangen konnte. Gemessen an dem – nun – Etat, den er für Meridian Health Care aufgetan hatte, war es nicht mehr als ein Klacks.
Engberts klickte über seine Favoritenleiste den New Yorker Server an, auf dem alle Projektdaten gespeichert und permanent aktualisiert wurden. Nach dem Log-in gelangte er in das Stammverzeichnis von
Rosebud.
Die Metaphorik der Bezeichnung freute ihn immer wieder aufs Neue. »Rosebud« ist das letzte Wort des sterbenden Zeitungsmagnaten »Citizen Kane«, gespielt von Orson Welles in dem gleichnamigen Film, und Anlass für Joseph Cotton in der Rolle des Journalisten, nach der Bedeutung des Wortes zu recherchieren. Doch nur der Zuschauer erfährt am Ende, was es mit
Rosebud
auf sich hat: Es ist der Name des Schlittens von Kane, den dieser als Junge bei seinen Eltern zurücklassen musste. Das Projekt nach einem Symbol für unbeschwertes und unschuldiges Leben zu benennen war geradezu poetisch.
In dem Ordner blinkte