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Alexandra von Stietencron Bd. 1 - Purpurdrache

Alexandra von Stietencron Bd. 1 - Purpurdrache

Titel: Alexandra von Stietencron Bd. 1 - Purpurdrache Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sven Koch
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habe, dann war es höchstens eine Notlüge. Wahrscheinlich hätte ich auch geschworen, dass ich der Kaiser von China bin, wenn Sie mich gefragt hätten.«
    »Sind Sie denn der Kaiser von China?«, fragte Roth und sah Marlon aufmerksam an.
    Marlon schüttelte den Kopf. »Natürlich nicht.«
    »Gut. Dann hätten wir das auch geklärt. Jetzt haben Sie keine Angst mehr vor mir,
amigo.
«
    Marlon lachte und rieb sich die Schläfen. »Der Drache hatte tatsächlich eine große Bedeutung für Herrn Roth«, sagte Engberts und legte ein Blatt aus der Kladde auf das nächste. Marlon verdrehte den Kopf. Das Wappen auf dem Fax war immer noch halb verdeckt. Ein Lorbeerkranz, der einen Stern umschlossen hielt. Eindeutig waren spanische Worte zu lesen. Etwas, was aussah wie
»Ministerio«.
Und
»Par«.
Mit einem Mal klappte Engberts die Kladde zu und sah Marlon feindselig an. »Bitte, das sind vertrauliche Patientendokumente, Herr Kraft.«
    Marlon zuckte mit den Achseln. »Sicher, was auch sonst?«
    »Okay«, sagte Engberts, »der Drache. Vielleicht wollen Sie es Herrn Kraft selbst erzählen, Herr Roth?«
    Roth hob den Kopf. Dann begann er zu sprechen, und in seine matte Stimme kam mit einem Mal Farbe.
    »Die Drachen des Ostens, des Westens, des Nordens und des Südens gebieten über die Welt und die Elemente. Aber es gibt einen, der noch mächtiger ist als Long, der gewaltigste unter den Drachen. Seine Augen gleichen Saphiren, aus denen das Licht von tausend Vulkanen strahlt. Die Schuppen seiner Haut sind aus leuchtendem, reinstem Purpur, der Kamm auf seinem Rücken und die Mähne glänzen wie pures Gold. Er hat zwei Söhne, den Feuerdrachen, der nichts mehr fürchtet als das Wasser, und den Wasserdrachen, der vor nichts mehr Entsetzen empfindet als vor dem Feuer. Sie sind ihrem Vater ergeben, denn er fürchtet nichts. Er ist der Purpurdrache, und er speit Perlen in die Welt, die auch Menschen in Drachen verwandeln können. Und nur er selbst kann sie wieder zurückverwandeln.«
    Roth seufzte.
    »Ich glaubte, einen Weg gefunden zu haben, wie ich selbst zu dem Pupurdrachen werden kann. Aber es ist mir nur in meiner Phantasie gelungen. Niemals habe ich eine seiner Perlen gefunden, ich habe mir alles nur eingeredet. Ich habe ihn nur noch ein letztes Mal getroffen und auch den Bruder des Drachen kennengelernt. Ich habe viel geweint, er auch. Es gab große Schmerzen. Aber da, wo er jetzt wohnt, ist er ein echter Glücksdrache.« Roth lächelte sanft. »Ich weiß nun vieles besser, Herr Kraft.«
    Bist du sicher? Oder plapperst du dieses ganze wirre Zeug nur, weil du jetzt die Perlen vom Doktor nimmst?
    Engberts räusperte sich und unterbrach Roth unwirsch. »Nun, ich habe das seinerzeit alles in meinem gerichtlichen Gutachten angemerkt und in der Verhandlung gegen Herrn Roth in Auszügen auch öffentlich vorgetragen. Gerne fasse ich es noch einmal für Sie zusammen: Drachen können aus tiefenpsychologischer Sicht für Kräfte des Unterbewusstseins stehen. Für etwas Übermächtiges und Schädliches. Vor allem in der europäischen Mystik sind sie ein Zeichen für feindliche Mächte und Angst. In China und Japan zählt der Drache zu den Ikonen des Tierkreiszeichens und ist ein vielschichtiges, positives Symbol. Es steht für Macht, Stärke, Weisheit, Glück und Fruchtbarkeit und war das Symbol des Kaisers, sein Sitz war der Drachenthron.
    Roths Eltern besitzen eine außergewöhnliche Sammlung von chinesischem Porzellan. Wenn sein Onkel ihn missbrauchte, musste Roth sich über die Schreibfläche eines Sekretärs beugen und blickte dabei auf eine Vitrine, in der sich ein vergoldetes Fabergé-Porzellanei befand, das einen sich schlängelnden Drachen in Purpurfarbe zeigte. Roth hat jedes Mal auf dieses Motiv geblickt, wenn er vergewaltigt wurde. Das Ei, die Farbe Purpur und den feuerspuckenden Drachen hat er mit dem Penis seines Onkels verknüpft. Jedes Mal wurde der Wunsch in ihm größer, der Drache würde ihn retten und den Onkel töten. Dem real nicht zu überwindenden bösen Drachen des Onkels musste er einen guten, weitaus mächtigeren Drachen entgegensetzen. Nach und nach wurde der purpurne Drache zu einem allmächtigen Wesen, in das sich Roth verwandelte, wenn er missbraucht wurde. Als Drache war er stark, nicht verletzbar, göttlich und überlegen. Als Junge war er nur ein geschundenes Wesen. Von nun an schlüpfte er immer, wenn er Angst hatte, in die Rolle des unbesiegbaren Fabelwesens. Diese gedankliche Metamorphose wurde zu einem

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