Alexandra von Stietencron Bd. 1 - Purpurdrache
Dort erhielt er den Namen »Pupurdrache«, weil sein chinesisches Seidenhemd mit der Drachenstickerei für ihn stets eine Art Trikot gewesen sei. Es habe ihm halt viel bedeutet. Was genau es damit auf sich habe, wisse nur Jürgen selbst, der sich im Lauf der Jahre mehr und mehr in seine Phantasiewelten zurückgezogen habe.
»Dass Jürgen den Kindern irgendetwas zuleide tun wollte, halte ich für ausgeschlossen. Er wollte auf sich aufmerksam machen und hat dafür den falschen Weg gewählt. Er hat nicht im Entferntesten daran gedacht, was er damit anrichten könnte. Es tut mir alles unendlich leid«, hatte Marlon Roths Vater wörtlich zitiert.
Marlon blätterte in den Kopien, während er auf der mit feinem Kies bestreuten Terrasse zwischen in Bottichen gepflanzten Palmen auf Roth wartete, eine Zigarette rauchte, Kaffee trank und den Blick auf den See genoss. Die Boote des örtlichen Yachtclubs waren wie weiße Tupfer auf das tiefe Blaugrau des Wassers gemalt.
Yachtclub. Was für ein gewaltiger Ausdruck für ein paar Jollenfahrer,
dachte Marlon und wunderte sich über seine Gelassenheit. Heute Mittag hatte er beim Gedanken an seinen Besuch im Stift noch eine Panikattacke bekommen. Jetzt war nichts davon zu verspüren.
Ruhe vor dem Sturm, mein Freund. Der Wahnsinn ist eine flexible Kugel.
Als Marlon nach rechts sah, stand Roth auf den Stufen und winkte ihm freundlich zu. Zwischen den Flügeln der hohen Jugendstil-Glastüren wirkte er wie ein Tourist auf einem gerahmten Erinnerungsfoto. Mit kleinen, knirschenden Trippelschritten kam er auf Marlon zu. Seine Bewegungen wirkten mechanisch und wie eingefroren, was an den Neuroleptika liegen mochte, mit denen er sicher bis obenhin vollgepumpt war. Er trug ein einfaches Poloshirt, eine Army-Bermudahose und Trekking-Sandalen.
Roth war sehr schlank und sah nicht schlecht aus. Von Professor Dr.Reinulf Engberts, der mit großen Schritten und wehenden Kittelschößen auf die Terrasse nachfolgte, konnte man das allerdings nicht behaupten. Er glich kaum noch dem strahlenden Leibniz-Preisträger, den Marlon in Erinnerung hatte. Engberts’ Gesicht hatte die Farbe von Teig. Die auffälligen Tränensäcke nebst der Wangenmuskulatur schienen den Kampf gegen die Schwerkraft aufgegeben zu haben und zerflossen in einen ungepflegten, von grauen Strähnen durchzogenen Bart.
»Buenos días, Herr Kraft«, sagte Jürgen Roth tonlos, und in der bewegungslosen Maske seines Gesichtes schien sich ein Lächeln abzuzeichnen. Die unsinnige Begrüßung auf Spanisch passte zu der unwirklichen Situation. Seit dem Erscheinen Roths fühlte sich Marlon wie in einem Traum.
»Grüße Sie, Herr Roth«, antwortete Marlon.
Bin ich das? Spreche ich? Und ist er das? Dieses kleine Männchen? Der Star meiner Alpträume?
»Ich lerne Spanisch«, sagte Roth, setzte sich und faltete die Hände auf der Marmorplatte des Gusseisentisches. »Ich habe viele neue Freunde, die diese Sprache sprechen. Weit weg von hier.«
»Herr Kraft!« Bevor Marlon über Roths Satz nachdenken konnte, grüßte Engberts ihn atemlos, gab ihm kurz die Hand, klopfte mit der anderen jovial auf Roths Schulter und nahm keuchend ebenfalls Platz, wobei er eine ockerfarbene Patientenakte auf Marlons Kopienkladde legte. »Tut mir leid. Viel Hektik. Ich habe nur zwanzig Minuten freischaufeln können«, entschuldigte er sich.
»Mehr als genug. Kein Problem«, sagte Marlon.
»Ich habe Ihren Artikel über diesen fürchterlichen Mord gelesen. Entsetzlich. Ich hoffe, Sie sind nicht deswegen zu Recherche-Zwecken gekommen?« Engberts lachte meckernd und fuhr sich durch die schütteren Haare.
Marlon schüttelte den Kopf und lächelte. »Nein, dazu kommt gleich die Polizei. Ich bin denen immer eine Nasenlänge voraus.«
An Engberts’ Blick sah er, dass ihm der Witz nicht gefiel.
»Na gut. Wir werden sehen. Ich hoffe, dass es kein Problem ist, wenn ich bei Ihrem Gespräch dabei bin. Vielleicht ist das für Sie beide nicht ganz einfach, und möglicherweise kann ich das eine oder andere beitragen, das für Sie wichtig ist …«
Und du willst nicht, dass dir etwas entgeht …
Marlon machte eine resignierte Geste und sagte: »Kein Problem.« Natürlich hätte er lieber mit Roth alleine gesprochen und hoffte, dass Engberts bei den kritischen Fragen nicht intervenieren würde. Dennoch musste er sich eingestehen, dass er sich mit Engberts, dem Profi, an seiner Seite sicherer fühlte. Er schaltete das Diktiergerät ein.
»Okay«, nahm Engberts die
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