Alexandra von Stietencron Bd. 1 - Purpurdrache
integralen Bestandteil seiner Psychose. Doch nun braucht er den Drachen nicht mehr. Jürgen Roth ist noch nicht stabil, aber er ist frei.«
Engberts sah auf seine Uhr. »Haben Sie noch Fragen?«
Marlon verneinte. Er war von den Informationen wie erschlagen. Wenn das das Geheimnis des Purpurdrachen war, das Hirngespinst eines armen, sexuell missbrauchten Irren, was hieß es dann, wenn der Drache erwacht war? Womit war zu rechnen? Wer, wenn nicht Roth, war der Drache? Und warum, zum Teufel, schickte der Marlon E-Mails? Was wollte er von ihm?
»Okay, ich muss los.« Engberts schnappte sich die Krankenakte. »Zudem ist es jetzt auch genug für unseren Patienten.«
Roth saß stumm da und blickte auf den See. Schließlich seufzte er:
»Si. Soy cansado.«
»Sehen Sie, er ist müde. Und wegen unseres Interviewtermins, Sie wissen schon, wegen Ihrer Serie«, sagte Engberts im Aufstehen. »Rufen Sie mein Sekretariat an. Ich denke, da lässt sich kurzfristig ein Termin finden.«
»Nur eine Frage noch«, sagte Marlon, Engberts zog die Augenbrauen hoch.
Nimmst du den Ball auf, Doc?
»Gehören Sprachkurse eigentlich zur Therapie?«
Während Roth aufstand und um den Tisch schlurfte, reichte Engberts Marlon die Hand zum Abschied. »Eigentlich nicht«, sagte er frostig. »Aber schaden kann Spanisch sicher nicht.«
Marlon stand auf und schüttelte ihm die Hand. Roth schlich grußlos an ihm vorbei und steuerte mit kleinen Trippelschritten neben dem Arzt auf den Eingang zu. Kurz vor der Treppe drehte er sich noch einmal um. »Wenn Sie den Drachen suchen: Er lebt bei meinen Freunden in Glück…«
»Auf Wiedersehen, Herr Kraft!«, rief Engberts, griff Roth hastig unter den Arm und zerrte ihn wie ein Spielzeug hinter sich her. Marlon zog ein letztes Mal an seiner Zigarette.
Onkel. Spanisch. E-Mails. Faxe. Sandra. Engberts. Purpur. China-Porzellan.
Marlons Gedanken fuhren Achterbahn und ließen ihn fast taumeln. Er schnippte die Kippe im hohen Bogen über die Brüstung der Terrasse und trank den kalt gewordenen Kaffee aus. Das Gespräch hatte ihn mehr verwirrt als erhellt. Nur eines war glasklar: Die Gewissheit, dass der Drache, dem er nachjagte, alles andere als ein Glücksdrache war.
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16 .
A lex rieb sich die Augen und ließ das Nass in einen Pappbecher fließen, um ihn im nächsten Moment in einem Zug zu leeren.
»Na, Frau Chefermittlerin«, murmelte Schneider, als er mit einigen Akten unter dem Arm um die Ecke kam, um sie in seinem Büro auf den Tisch zu werfen.
»Wie viele Spitznamen bekomme ich eigentlich noch?«, fragte Alex, knüllte den Pappbecher zusammen und warf ihn in den überquellenden Mülleimer.
Schneider grinste und zog sich den Bund der auf den Hüften hängende Hose über den Wanst. »Mir fallen bestimmt noch ein paar ein, keine Bange. Ich will der Wohnung von Sandra Lukoschik mal einen Besuch abstatten. Die Kollegen sind schon vor Ort. Kommst du mit?«
Alex stutzte kurz überrascht. Dann nickte sie. »Natürlich, gerne.«
In Schneiders Wagen quoll der Aschenbecher über. Eine dicke Staubschicht hatte sich auf das Armaturenbrett gelegt, aus dem Autoradio säuselte volkstümliche Musik.
»So lässt sich das aushalten«, sagte Schneider, der hinter dem Steuer auf einem Massageüberzug aus Holzkugeln saß und die Klimaanlage noch eine Stufe höher stellte. Auch Alex genoss den kühlen Luftstrom und streckte den Düsen im Fußraum ihre Zehen entgegen.
»Tja«, fügte er hinzu und bog auf die vierspurige Fürstenallee ab, die zum Zentrum führte, »ist alles etwas anders als auf der Uni, was?«
Alex zwirbelte in ihrem Haar und sah aus dem Fenster, während der Vectra die Fachmarktzentren am Südring passierte. »Ein für alle Mal, Rolf: Es war keine Uni, es war eine FH , und zwar die vom BKA . Und ja: Da war ich auch in Ermittlungen tätig, und ich bin nach meinem Abschluss dort Kriminalbeamtin. Und nein, auf der ganz normalen Uni, auf der ich einige Semester Medizin und dann Psychologie studiert habe, gibt es so was nicht.«
Schneider lachte heiser und klopfte Alex dann aufs Knie, bevor er in den vierten Gang schaltete. »Na komm schon, ich mach doch nur Blödsinn.«
»Nein, Rolf, für mich ist es inzwischen kein Blödsinn mehr, weil ich mir das den ganzen Tag anhören muss und mich einfach nicht ernst genommen fühle. Ich habe ständig das Gefühl, irgendetwas beweisen zu müssen, damit Marcus und du und die anderen …«
»Jetzt will ich dir aber auch mal was sagen«, unterbrach Rolf ihren
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