Alexandra von Stietencron Bd. 1 - Purpurdrache
dafür, dass Herr Kraft nach draußen begleitet wird.«
Kraft machte einen energischen Schritt auf Marcus zu und blieb wenige Zentimeter vor ihm stehen. »Du schmeißt mich raus?«
»Ich schmeiße dich raus, genau.«
»Dazu hast du nicht das Recht.«
»Und ob.«
»›Selbstherrlicher Ermittlungsleiter blockiert Recherche‹ – Willst du das morgen lesen?«
»Ihr druckt schon.«
»Ich halte die Rotation an.«
»›Kommissar Ahnungslos verbockt Ermittlungen: Zweite Leiche‹ – Wäre dir das lieber?«
Schneider legte Marlon die Hand auf die Schulter, in der er noch den Personalausweis zwischen den Fingern hielt. »Herr Kraft, ich glaube, es ist besser, wenn Sie jetzt …«
»Fassen Sie mich nicht an!«
»Ich bitte Sie, Herr Kraft …«
Marlons Blick fiel auf den grünen Plastikstreifen zwischen Schneiders Fingern. Blitzschnell griff er danach und hielt ihn gegen das Licht.
»Juliane Franck!«, rief er triumphierend. Dann kniff er die Augen zusammen, betrachtete den Ausweis genauer und schluckte.
Schneider schnappte sich das Dokument. »Sind Sie bescheuert, Mann? Das ist ein Beweismittel!«
»Das Bild von dem Ausweis«, stammelte Marlon. »Kann ich das haben?«
Marcus schoss auf Kraft zu, griff ihn bei den Schultern und schob ihn in den Heizungsraum.
»Darf ich vorstellen, Marlon: Das
ist
Juliane Franck. Das auf dem Bild
war
mal Juliane Franck.«
Der
Neue-Westfalenpost
-Fotograf hob seine Kamera, aber Reineking legte seine Hand auf das Objektiv und drückte es hinunter. Als der Mann zu protestieren begann, schüttelte Reineking den Kopf und legte einen Finger an die Lippen. »Pst, wir wollen doch keinen Stress machen, oder?«
Alex betrachtete Kraft, der zu keiner Regung mehr fähig schien.
»Da machst du Augen, was? Findest du sie immer noch hübsch? Bring doch so ein Bild in deiner Zeitung«, flüsterte Marcus ihm zu. Kraft drehte sich wortlos um.
»Und? Kennst du sie? Wenn ja, woher? Na, komm schon, Marlon, wie sieht’s aus?«, rief Marcus ihm hinterher. Kraft murmelte etwas Unverständliches und schüttelte mit dem Kopf. Dann verschwand er im Flur. Marcus setzte noch dazu an, ihm zu folgen, hielt dann aber inne, seufzte und nestelte an seinem Hemdkragen.
Schneider wedelte mit den Händen und machte »Uiuiui« zu Alex, die sich erst jetzt wieder traute, durchzuatmen.
»Tut mir leid!«, rief Marcus und hob entschuldigend die Hand. Dann wandte er sich an Alex. »Ich …, ich bin etwas angespannt, sorry. Ich habe mich vergessen. Der Staatsanwalt und der Landrat sitzen mir im Nacken, und die Presse … Na ja, hast du ja gesehen. Sie wollen Ergebnisse, aber was sie bekommen, ist eine weitere Leiche.«
»Kein Problem.«
»Hm. Für mich schon.«
Schneider räusperte sich. »Und was ist jetzt mit König?«
»Rolf, bitte …«
»Ich frage ja nur.«
»Dann also noch mal zum Mitschreiben: Setz dich in ein Flugzeug und bring ihn mir in mein Büro. Von mir aus leg dich an den Strand und lass die Kollegen in Griechenland die Arbeit machen, aber schaff ihn mir in den Vernehmungsraum. Schnell. War das klar genug?«
»Roger, Chef.«
Alex versuchte, die verschmierten Schuhe an einem Vorleger abzuwischen, aber die Masse war bereits getrocknet.
»Ich würde gerne noch etwas den Fundort in Augenschein nehmen, wenn das in Ordnung ist«, sagte sie.
Marcus nickte und wischte sich über die Augen. »Klar. Die Spurensicherung schlägt sich sowieso die Nacht um die Ohren.«
Alex streifte sich ein Paar Latex-Handschuhe über. Als sie noch einmal zu Marcus sah, knibbelte er gedankenverloren an seiner Unterlippe. Ja, er hatte mit mehr zu kämpfen als mit der Suche nach einem Mörder. Da war noch ein weiterer Gegner im Spiel, das erkannte sie jetzt. Der härteste von allen: Marcus selbst.
Alex machte einige Schritte auf die Leiche zu und sah sich in dem Raum um. Noch einmal versuchte sie, sich vor Augen zu führen, was sie sah. Nicht das Augenscheinliche. Sondern das dazwischen. Den Subkontext. Die verborgene Handschrift des Mörders.
Wie im Fall von Sandra Lukoschik, dachte Alex und schloss die Augen, lag auch hier eine Mischung aus Overkill, Depersonalisierung und Staging vor. Der Overkill, die Übertötung, lag auf der Hand. Der Killer hatte weitaus mehr angerichtet, als nötig gewesen wäre, um den Opfern das Leben zu nehmen. Er hatte sie sozusagen gleich mehrfach umgebracht – aber nicht, um sicherzugehen, dass sie auch wirklich tot waren. Wie bei manchen Affekttaten, wenn Täter in Panik zigmal
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