Alexandra von Stietencron Bd. 1 - Purpurdrache
Mund zu atmen. Den Pulvergestank hatte sie von dem Moment an gehasst, als er ihr in der Ausbildung vor Jahren zum ersten Mal in die Nase gestiegen war. Dann legte sie die Pistole auf den Tisch, drückte auf den Knopf, und die Schießscheibe surrte heran. Helen grinste, verschränkte die Arme und sagte etwas. Alex nahm den klobigen Gehörschutz ab.
»Hä?«
»Verdammtes Miststück, habe ich gesagt. Stehst du auf Beschimpfungen, oder warum willst du das gleich doppelt?«
»Der Gehörschutz …« Alex tippte mit den Fingernägeln auf die gelbe Plastikschale.
Helen lächelte immer noch. Sie war einen Kopf kleiner als Alex und nach ihrer Schwangerschaft ein wenig in die Breite gegangen. Die Schutzbrille, die sie jetzt hochgeschoben auf der Stirn unter dem wuscheligen blonden Haar trug, hatte tiefe Abdrücke rund um die Augen hinterlassen, an denen sich die ersten Fältchen bildeten. Sie nickte in Richtung Schießscheibe. Alex zog die Schutzbrille ab, strich sich eine tiefschwarze Strähne aus dem Gesicht und kniff die Augen zusammen.
»Mach das nicht, das gibt Falten«, lachte Helen. »Die gehören nicht in so ein hübsches Schneewittchengesicht.«
»Hast du eine Ahnung …« Auch Alex lachte.
Schneewittchen.
So hatte Helen sie früher schon genannt. Weil Alex sie mit ihrem pechschwarzen Haar, der hellen Haut, den rehbraunen Augen und dem kirschroten Mund daran erinnerte. Helen liebte Spitznamen.
»Und warum Miststück?«, fuhr Alex fort. »Die Treffer sind doch alle plaziert?«
»Eben«, grinste Helen. »Und zwar alle im Gesicht.«
»Oh.« Jetzt erst fiel es auch Alex auf. Sie hatte auf der Mannscheibe tatsächlich sechs Treffer direkt im Gesicht der Zeichnung gelandet. »Tatsächlich.«
»Man könnte fast meinen, du seist Schütze statt Wassermann – eigentlich bist du auch viel zu zielgerichtet. Muss am Aszendenten liegen.«
»Du mit deinem Astro-Tick – du weißt doch, was ich davon halte.«
Helen nickte. »Na, dann hat das wohl mit Ihrem Job zu tun, Frau Doktor von und zu?«
Alex lachte. Andauernd machte sich irgendwer darüber lustig. Nun, sie konnte damit leben. Was den Namen anging, hatte es schon im Kindergarten begonnen. Alexandra Gräfin von Stietencron. Eine Steilvorlage für Kinder. Irgendwann in der Oberstufe hatte es aufgehört. Nach dem Abitur sowieso. Ihr Vater war damals ausgetickt, als Alex ihm mitgeteilt hatte, dass sie nicht Jura studieren würde. Noch heute hörte sie seine tiefe Stimme durch die Düsseldorfer Biedermeiervilla im schicken Oberkassel hallen. Sie, mit ihrem Einser-Abschluss. Lehrling wolle sie werden und Strafzettel verteilen – mit diesen Worten hatte er ihr Studium an der BKA -Akademie herabgewürdigt. Ein Jahr lang hatte er kein Wort mit ihr gewechselt. Als sie später das Medizinstudium aufgenommen hatte, war er zunächst versöhnt gewesen, um dann erneut in störrisches Schweigen zu verfallen, als sie auf Psychologie umsattelte, weil sie die Medizin nur als einen Trittstein auf ihrem Weg angesehen hatte.
Alex legte den Kopf schief und betrachtete die Schießscheibe. Sie war froh, dass sie das Ding nach der langen Zeit überhaupt getroffen hatte. Daran gemessen war das Ergebnis geradezu brillant. »Was gibt es denn auszusetzen?«
»Eigentlich nichts«, sagte Helen und schob ein neues Magazin in ihre Walther. »Nur: Psychologin, Kopf, Pistole, Kopftreffer – hallo?«
»Ah.« Alex nickte. »Verstehe. Tja, wer weiß: Die Schaltkreise da oben sind unergründlich.«
Helen lächelte und schob sich ihre Brille über die Augen. »Natüüüürlich. Aber du kommst zurecht, das stimmt. Ist wie Fahrradfahren, oder?«
»Mmh.« Es war tatsächlich wie Fahrradfahren. Alex hatte es für eine gute Idee gehalten, sich wieder etwas fit zu machen, bei Helen angerufen und gefragt, ob ein paar Runden im Schießkino drin seien. Natürlich gehörte Alex längst nicht mehr dazu, zumindest offiziell nicht. Aber: einmal Polizist, immer Polizist. Helen hatte einen Weg gefunden, Alex einzuschleusen.
Die Töne von
Axel F.
, der einprägsamen Titelmelodie von
Beverly Hills Cop,
plärrten aus Alex’ Handtasche.
»O nein«, stöhnte Helen. »Das ist … Das kann doch wohl echt nicht wahr sein, Schätzchen:
Axel F.?
«
Alex zuckte mit den Schultern und zog das Handy aus der Tasche. »Ja, das war aber ein Zufall mit dem Klingelton, denn …« Sie brach abrupt ab, als sie die Nummer im Display sah. »O Gott …«
»Sag nicht«, sagte Helen und legte die Waffe beiseite, »sag
Weitere Kostenlose Bücher