Alexandra von Stietencron Bd. 1 - Purpurdrache
mich zu überwachen.« Das Lächeln verschwand von seinen Lippen. »Mit meinem eigenen Geld!«, schrie er, schnaubte, und sein Kopf lief hochrot an. Einige Kinder sprangen zur Seite. Die Erzieherinnen zuckten zusammen. Konnte dieser Mann durchdrehen? War er unberechenbar? Mit Sicherheit.
Die Stimme in Marlons Ohr meldete sich. »Kraft, wenn alles okay ist, husten Sie.« Marlon hüstelte nervös. »Okay. Lesen Sie das vor und verschwinden Sie«, sagte Schwartz. Marlon hüstelte wieder. »Wenn es Ihnen gelingt, bringen Sie den Mann auf den Flur, raus aus der Gruppe. Dann haben wir eine Möglichkeit. Aber: keine Heldentaten.«
Das Spiel bekam eine neue Wendung, dachte Marlon. Nun wollte die Polizei ihn offenbar doch als Instrument benutzen. Ein kleines Mädchen zupfte an seiner Hose. »Bist du erkältet?«, lispelte sie. Marlon lächelte gequält und schüttelte den Kopf. Sie hatte Pippi-Langstrumpf-Zöpfe und eine niedliche Zahnlücke. Ja, er musste versuchen, Roth hier rauszubringen. Aber vorher war noch dafür zu sorgen, dass Eddie ein Foto machen konnte.
Reporter verhandelt mit dem Geiselnehmer.
Erst das Bild würde die Geschichte zum Überknaller machen. Und dazu musste die Jalousie geöffnet werden.
Roth hatte sich wieder beruhigt. »Hier, das Funkgerät. Bitte verlesen Sie mein Vermächtnis. Wenn es in den Nachrichten gesendet worden ist, gehen wir raus. Ich will keinem etwas tun – aber: Niemand hat je auf mich gehört, und diese fürchterlichen Dinge müssen aufhören. Sie wollen mein Gedächtnis löschen. Ihnen wird man glauben. Ich vertraue Ihnen.«
Marlon nickte und sah sich in dem Raum um. An dem Fenster, direkt neben dem Sofa, war ein Schaltrelais in die Wand eingelassen. Es hatte zwei Tasten. Das musste die Steuerung für die Jalousien sein.
»Was ist das für ein Aufdruck auf Ihrem Hemd?«, fragte Marlon. Es sah aus wie eine Kung-Fu-Zeichnung in tiefem, leuchtendem Rot mit viel Gold.
»Der Drache«, flüsterte Roth. »Es ist der Purpurdrache. So nennen sie mich im Backgammon-Club wegen meines Hemds.«
»Das Vermächtnis des Purpurdrachen«, leck mich am Arsch.
Roth kicherte. »Die haben natürlich keine Ahnung. Aber Sie wissen es, nicht wahr? Er ist Ihnen gleich aufgefallen. Sonst hätten Sie nicht gefragt, richtig? Sie kennen sein Geheimnis.«
»Sicher«, sagte Marlon und zermarterte sich den Kopf, wie er an den Schalter der Jalousie gelangen könnte. »Ich weiß Bescheid. Aber wir haben nicht mehr viel Zeit. Und hier drinnen ist es zu laut. Wir könnten zum Lesen auf den Flur gehen. Da haben wir genug …«
Roth lächelte und schüttelte den Kopf. »Das werden wir nicht, Herr Kraft. Dann würde die Polizei sofort eingreifen, das geht nicht. Nein, wir lesen hier drinnen. Und ich bin mir sicher, dass die Kinder einen Moment lang ruhig sein werden.«
»Ganz wie Sie wollen«, sagte Marlon.
»Mist«, krächzte es in seinem Ohr. »Abbruch!«
Wie es schien, hatten sich die Wahnsinnigen da draußen bereits auf den Weg gemacht. Marlon schluckte.
»Vielleicht«, schlug er Roth vor, »gehen wir rüber in die Leseecke …«
… zu dem Schalter, an den ich mich versehentlich anlehnen könnte …
Roth war einverstanden. Die Erzieherin mit der Gitarre brachte die Kinder weg von dem Straßenteppich. Marlon lehnte sich neben dem Sofa an und tat so, als überfliege er das Vermächtnis noch einmal. Tatsächlich drückte er den Rücken sanft an die Wand, bis er einen kantigen Widerstand an den Lendenwirbeln spürte. Das Steuerungsrelais. Roth schaltete das Funkgerät ein.
»Wir werden jetzt senden«, sprach er hinein.
»In Ordnung, wir zeichnen auf«, rauschte es zurück.
Roth reichte das Gerät Marlon und erhob seine Stimme. »Alle Kinder sind jetzt leise …«
Die Kinder tobten und kreischten weiter.
»Sorgen Sie für Ruhe, verdammt!«, schrie er die Erzieherinnen an, die zusammenzuckten. Roth griff in seinen Hosenbund und zog eine Pistole hervor, die er einmal kurz vorzeigte und dann in der rechten Hand baumeln ließ. Jetzt zuckte auch Marlon zusammen.
»Kraft?« Marlon hustete.
Die Erzieherinnen knieten sich hin, legten sich die Finger an die Lippen und machten »Pssst«. Wie es aussah, eine hundertfach erprobte Methode, um für Ruhe zu sorgen. Die Kinder setzten sich, legten ebenfalls die Finger an die Lippen und machten »Pssst«.
Marlon starrte auf die Pistole in Roths Händen. Irgendetwas stimmte damit nicht.
»Können wir?«, krächzte es aus dem Funkgerät.
»Wir können«, sagte
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