Algebra der Nacht
tiefer in die Augen, in denen nicht ein Fünkchen Schalk blitzte.
»Du glaubst mir nicht?«
»Weder das eine noch sein Gegenteil. Ich … ich bin bloß …«
Ich liebe dich seit dem Moment, als du bei Alonzos Begräbnis hereinkamst.
Die Wörter lagen mir auf der Zunge, vielleicht hätte ich sie noch gesagt, vielleicht war ich aber auch einfach zu verblüfft über die Plötzlichkeit, mit der wir monatelanges Grenzenziehen und Umwege soeben übersprungen hatten. Ein Teil von mir, ein großer Teil, konnte das in dem Moment nicht glauben. Aus dem einfachen Grund, dass nichts einfacher war, als ich liebe dich zu sagen, und zwar aus vollem Herzen, und dasselbe von einem anderen, auch aus vollem Herzen gesprochen, als Antwort zu hören.
Und so machte ich den Mund ganz zu und starrte sie hilflos an und sah das Licht in ihren Augen erlöschen und hätte zu gern irgendwas gesagt, um es wieder anzuzünden, egal, was, aber da tippte mir jemand auf die Schulter. Nicht der Ziegenhirte, wie ich erst dachte, sondern ein Mensch von Anfang sechzig mit Hängebäckchen und Tränensäcken, der ein Thomas-Morus-Kostüm trug wie Marleys Geist seine Ketten.
»Würden Sie bitte meiner Frau Bescheid sagen?«, sagte er in einem Ton, dem man anhörte, dass das kernige Nordlicht müde war.
»Ihrer Frau?«
Er wies mit dem Kopf auf die andere Seite des Zelts, wo Millicent, verzückt strahlend, ein Bein um die Zeltstange wand. Ihre Perücke war zur Seite gerutscht, ihr Mieder war fleckig, und sie hatte keine Schuhe mehr an.
»Richten Sie ihr aus, ich bin geschafft«, sagte ihr Mann. »Sie findet mich im Auto.«
Er stand noch eine kurze Weile neben mir, sah zu, wie seine Frau die schmalen Hüften schwang und sich Champagner über die Handgelenke goss.
»Sie tanzt wirklich gern«, ließ er mich noch wissen.
Die Party zog sich ewig hin, aber Feuchtigkeit, Wolle, gepökelte Speisen und – das kam erschwerend hinzu – die natürliche Hysterie, die bei einer Hochzeitsfeier nie ganz zu vermeiden ist, forderten allmählich doch ihren Tribut.
Da ich mich ziemlich ausgetrocknet fühlte, machte ich mich auf die Suche nach Clarissa. Sie hockte neben der Eisbar auf einem
Melkschemel, nicht eigentlich müde wie die anderen Gäste, sondern eher bleich, so wie damals im Stanton Park. Sie sah aus, als würden ihre inneren Lichter eins nach dem anderen abgeschaltet.
»Himmel«, sagte ich. »Alles in Ordnung mit dir?«
»Ja.«
»Sicher?«
»Mm.«
Ich wandte mich halb ab, sah zu Boden. Und da sagte sie:
»Henry.«
Sie wollte aufstehen, ließ es aber gleich wieder bleiben.
»Tut mir leid«, sagte sie. »Was ich vorhin gesagt habe.«
»Oh. Das macht doch nichts.«
»War wohl der Met. Der kann bei uns Frauen seltsame Wirkungen entfalten.«
»Nein, schon gut.«
Und da ich wieder nicht die Kraft hatte, noch mehr zu sagen, stand ich bloß da und wartete darauf, dass ihre Wangen Farbe bekamen.
Da pochte es an meiner Hüfte. Nicht mein Rapier, sondern mein Handy, das sich vor Unruhe verzehrte.
»Hallo?«
»Du schuldest mir was«, sagte Sabina.
»Warte«, sagte ich. »Ich hör dich schlecht.«
Ich wandte mich um und fand nach einigem Suchen einen Kleiderständer voller Hermelinmäntel, die den Lärm ein wenig dämpften. Ich hielt mir ein Ohr zu und sagte:
»Leg los.«
»Also, zunächst einmal erfährt man aus der Statistik nur, wie viele Personen in einem bestimmten Pfarrbezirk umgekommen sind. Namen sind da nicht aufgeführt.«
»H-hm.«
»Aber weil ich so ein verdammt guter Mensch bin, bin ich alle Aufzeichnungen für das Jahr 1603 durchgegangen, und deshalb schuldest du mir was.«
»Und was hast du gefunden?«
»Nichts, keine Crookenshanks. Am nächsten kamen dem, hm, Croken shents . In St. Helen's Bishopsgate. Mutter und Tochter. Beide im Abstand von zwei Wochen gestorben.«
»Steht da etwas über die Todesursache?«
»Nein. Aber bei dem zeitlichen Rahmen denkt man unweigerlich an die Pest.«
»Vornamen?«
»Okay, der der Mutter lautete Audrey.«
»Und der der Tochter Margaret.«
»Äh, nein, Miss Marple. Deswegen hab ich mit dem Rückruf noch gewartet. Aber weil es so ein seltener Name ist – ich meine, für die Zeit –, dachte ich, du würdest ihn trotzdem hören wollen.«
Aber ich konnte ihn nicht hören, nicht beim ersten Mal, und so bat ich sie, ihn zu wiederholen.
»Henry, bist du dran?«
»Ja«, sagte ich, und mir taten vor Anspannung die Augen weh. »Entschuldigung.«
»Es ist so laut , wo du bist.«
»Ich
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