Algebra der Nacht
Bilde.
»Mr. Cavendish, Sie glauben doch wohl nicht, dass ich diesen Blödsinn über Harriots Schatz ernst nehme?«
»Warum spielen Sie dann mit uns?«
»Ein alter Mann braucht Zerstreuung.«
»Es gibt ihn«, sagte ich. »Der Schatz existiert.«
Dieses Mal lachte er wenigstens nicht. Ich griff nach seinem Schweigen wie nach einem Rettungsanker.
»Ich war auch ein Zweifler, wissen Sie, Mr. Styles. Glauben Sie mir, ich habe nicht daran geglaubt. Aber ich kann die Indizien nicht mehr übersehen. Der Schatz ist da.«
»Und warum wollen Sie ausgerechnet mich überzeugen?«
»Weil er Ihnen gehören kann, wenn Sie mir ein paar Stunden Zeit geben.«
»Wie großzügig«, sagte er trocken. »Und was verlangen Sie für Ihre wohltätigen Bemühungen?«
Ich drückte den Daumen aufs Auge. Fest.
»Hatten Sie nicht von einem Tausch gesprochen?«, sagte ich. »Das wäre mein einziges Interesse.«
»Oh, Mr. Cavendish, Sie sind wirklich ritterlich.« Man hörte förmlich, wie er zwinkerte.
»Und wenn schon. Geben Sie mir Zeit bis drei Uhr nachts. Mehr verlange ich nicht.«
Eine weitere Pause, diesmal von längerer Dauer.
»Wenn Sie wissen, wo sich diese goldene Horde befindet«, sagte Styles, »warum sagen Sie es mir dann nicht einfach? Und ersparen sich den Aufwand …«
»Das kann ich nicht. Sie müssen mir glauben, ich bin der Einzige, der den Schatz holen kann.«
»Und warum soll ich Ihnen glauben? Nach allem, was schon geschehen ist?«
»Weil …«, ich brauchte etliche Sekunden, um mich zu fassen. »Weil Sie mir vertrauen können, wenn es um Clarissa geht.«
Ich schloss die Augen und zählte: Eins … zwei …
Und dann sagte Bernard Styles:
»Also gut.«
Er verschwand in einer Wolke von Rauschen und war dann unvermittelt wieder da.
»Schlag drei Uhr erwarte ich Ihren Anruf. Falls ich nichts von Ihnen höre, betrachte ich unsere Abmachung für null und nichtig. Ist das klar?«
Ich dachte an die anderen Personen aus Bernard Styles' Vergangenheit: Cornelius Snowden, ermordet im Postman's Park. Maisie Hartzbrinck, unter einen Bus gestoßen. Der Professor aus Southampton, von einem Hausdach geworfen. Sie alle vom Erdboden ausradiert.
»Ich verstehe«, sagte ich.
Alonzo fand mich nur wenige Minuten später, als ich unter einem Baldachin aus weißen Silikontauben hin- und herging.
»Großer Gott«, sagte er. »Du siehst aus, als ob dich jemand in eine Krypta eingemauert hätte.«
»Ich glaube, ich habe von Millicents Schnee probiert.«
»Meinst du?«
»Alles sieht verschwommen aus.«
»Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr mich das freut, Henry. Eine Jagdgesellschaft braucht immer einen Kokser. Hoffentlich ist wenigstens Clarissa noch beisammen.«
»Clarissa ist weg.«
Wie dünn sich das ausnahm. Was für ein dünner Nachhall.
»Sie ist weg«, sagte Alonzo.
»Ihr ist nicht gut gewesen. Sie hat sich ins Hotel verzogen. Unter uns, ich glaube, sie hatte eine Heidenangst. Und mal ehrlich, uns von ihren Schwächeanfällen runterziehen lassen, das können wir nicht brauchen. Wir müssen in der Spur bleiben.«
Er starrte mich jetzt an, als löse sich meine Haut in langen Streifen ab.
»Vielleicht hast du recht«, sagte er schließlich. »Vielleicht hat Clarissa ihre Funktion erfüllt.«
Ein ganz leichter Peitschenhieb am Ende des Satzes. Es stand mir frei, zu grübeln, ob eine Beleidigung beabsichtigt war und ob sie mich treffen sollte.
»Jetzt wollen wir mal sehen«, sagte Alonzo. »Die Hochzeitstänze sind durch. Die Trinksprüche sind durch. Die Mutter des Bräutigams ist sturzbetrunken. Ja, ich würde sagen, das geht aufs Ende zu.«
»Was soll ich machen?«
»In der Spur bleiben natürlich.«
Um halb zwölf waren Bräutigam und Braut verduftet. Um Mitternacht wurden die Gäste mehr oder weniger energisch vom Gelände gescheucht.
Mit Ausnahme von drei Gästen, die es überhaupt nicht eilig hatten.
Es war beinahe so leicht, wie Alonzo es prophezeit hatte. Wir entschlüpften hinten der Orangerie. Schlichen uns in den Gartenvon Syon Park. Fanden die Rucksäcke, die Seamus unter Laub versteckt hatte. Und brauchten jetzt nur noch zu warten.
Sogar der Regen war, als er einsetzte, kaum mehr als ein Geräusch: ein Vorbeischrammen an den Scharlacheichen und Kastanien. Die Sterne waren hinter orange-grauen Wolken verschwunden, und von irgendwo in der Ferne ertönte wie eine Geisterstimme Millicents Alt.
»Mr. Daniell … Mr. Daniell, wo sind Sie?«
Für einen Moment war ich sicher, dass sie
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