Algebra der Nacht
alle Gerätschaften baulich auf eine effektive Kombination von größter Zuglast und kleinster Form optimiert.
Seamus war körperlich nach demselben Prinzip gebaut. Alonzo zufolge hatte er einen Ruhepuls von 36 Schlägen pro Minute (»Wie Bären im Winter, Henry«). Er betatschte seine Ausrüstung auch wie ein Bär, und die schiere Straffheit seines schmalen Körpers – Seamus hatte sich längst bis auf ein Mikrofleeceshirt und eine Funktionsshorts entkleidet –, das Flechtwerk strammer Muskeln unter seiner Haut ließen einen an Wildnis denken. Der Mann war fast einen Kopf kleiner als ich, aber mir wäre nicht im Traum
eingefallen, mich ihm aufzudrängen. Sogar Alonzo hielt lieber Abstand.
»Ich wäre sowieso nur im Weg«, sagte er.
»Wo gehst du denn hin?«, sagte ich.
Er wies mit dem Kopf auf das angrenzende Wäldchen.
»Keine Sorge«, fügte er hinzu. »Ich bin auf dem Quivive. Hier kommt keiner vorbei, ohne dass ich ihn sehe. Hör zu, Henry, sobald du da oben bist, rufst du mich an, verstanden? Ich will wissen, wie es da ausschaut. Jeder Riss, jede Spalte, verstehst du? Unter uns: wir finden das Gesuchte. Oh, und Henry …«
»Ja?«
»Sei großartig.«
Nun musste ich doch lächeln.
»Hauptsache, du hältst uns den Rücken frei«, sagte ich.
Gott sei Dank stand nicht zur Debatte, dass wir uns umarmten. Trotzdem, ganz ohne Gefühl war es wohl doch nicht abgegangen, denn als er kehrtmachte und auf den Wald zuschritt, traf mich der Anblick seiner Gestalt, die an ein Boot erinnerte, und dieser verstörend kleinen Füße mitten ins Herz. Erwog ich ernsthaft, Alonzos Schatz wegzugeben?
Und dann schob sich über unsere gemeinsame Geschichte das Bild Clarissas, wie ich sie zuletzt gesehen hatte, auf beiden Seiten von Halldors hin- und herspringendem Körper eingerahmt.
Ich schloss die Augen, aber dieses Bild wollte sich nicht auslöschen lassen, und so sah ich stattdessen zu Seamus hinüber, der seine Ausrüstung säuberlich geordnet vor sich ausbreitete.
»Seamus«, sagte ich. »Dürfte ich Sie etwas fragen?«
»Mm.«
»Warum tun Sie das?«
Ein leises Ächzen, als er den ersten Greifhaken in den Mörtel trieb.
»Finanziert mir meine nächste Klettertour.«
»Wer?«, fragte ich. »Alonzo?«
Seine Schultern erhoben sich eine Winzigkeit. »Es ist der Große«, sagte er. »Der Nanga Parbat. Der Menschenfresser. Viertausendsechshundert Meter Falltiefe.«
Er nicke zur Betonung, aber ich gestehe, dass der Nanga Parbat mir weniger Respekt abnötigte als Alonzos Frechheit. Was immer heute Nacht geschah, die Chancen, dass Seamus für seine Mühen auch nur einen Shilling sah, waren sogar noch geringer als die, dass wir unseren Schatz fanden, und ich empfand fast Zärtlichkeit für den Mann, als er die Black Diamond Icon Stirnlampe an seinem Kopf befestigte und seine Five-Ten-Moccasym-Kletterschuhe in die Trittleiter schob.
»Wenn ich oben bin«, sagte er, »geb ich Ihnen Lichtzeichen. Zweimal an und aus, mehr nicht. Sie befestigen das Seil an Ihrem Gurt und rucken zweimal. Dann fang ich an zu ziehen.«
»Sie ziehen mich rauf?«
»Ich hab schon größere Kühe als Sie gehoben.«
Beleidigend und beruhigend zugleich.
»Brauch ich zum Klettern nicht die Lampe?«, fragte ich.
»Zwei Füße reichen.«
Seamus überprüfte noch einmal sein Werk, befestigte mich an meinem Gurt und ging kurz in die Knie, bevor er sich an seinen ersten Haken schwang.
»Bis dann, Kumpel.«
Und er ging rauf.
Nur dass dieser einfache Satz nichts von der Eleganz und Ökonomie vermittelt, mit der er das tat. Er griff in den Stein, setzte einen Fuß auf, zog sich zur nächsten Ebene – und das mit einer einzigen fließenden Bewegung. Es war, als werde man Augenzeuge der Entwicklung einer Lebensform oder, genauer gesagt, der gemeinsamen Entwicklung zweier Organismen – des Turms und des Kletterers –, die ihre DNA zu einem goldenen Strang verwoben.
Und so war es ein Schock, als ich bloße zehn Minuten später wieder hinaufsah und Seamus nicht mehr an der Außenmauer des Turms fand. Stürzte nun der ganze Turm ein? Doch es fiel schließlich nur ein Seil, erstaunlich dünn: ein Polyestermantel um einen Nylonkern. Ich wartete, und dann kam von oben das Signal: ein kurzes Blinken, direkt über meinem Kopf.
Ich wand das Seil durch den Sicherungshaken, verknotete es
und ruckte zweimal. Ehe ich mich's versah, war es schon straff angezogen und meine Füße hatten keinen Bodenkontakt mehr. Mir schnürte es vor Angst die Kehle zu, als ich
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