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Algebra der Nacht

Algebra der Nacht

Titel: Algebra der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louis Bayard
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mich an die Mauer schwang. Meine in den verschwitzten Schuhen steckenden Füße schrammten gegen die noch feuchten Steine und machten beim nächsten Zug des Seils den ersten fohlenhaften Schritt himmelwärts.
    Ich kam zwar nicht so schnell voran wie Seamus, erklomm unbestreitbar aber an einem Seil Syon House. Und davon absehen konnte ich nur, indem ich in den samtigen orangen Nachthimmel schaute und mir sagte, ich … stiege hinab , nicht hinauf. Ließe mich hinab in ein warmes Meer von Klementinen.
    Die Illusion zerplatzte, als ich mit dem oberen Fuß abrutschte, und so ersetzte ich sie durch ein anderes Bild: Clarissa. Die mich an der Turmspitze erwartete, die Arme lange weiße Säulen. Auf sie richtete ich meinen Sinn, als schließlich Schießscharten und Zinnen in meinem Blickfeld auftauchten. Und sie hätte mich auch mit offenen Armen empfangen, davon bin ich überzeugt, hätte da nicht eine Stimme durch die Dunkelheit gerufen.
    » Wer da? «
    Ein gespenstisch alter Klang: Es hätte gut und gern der Verwalter eines Gutsherrn sein können, der einen Fremden auf einem staubigen Klepper anruft. Vierzig Fuß hoch über Gottes Erde fand ich mich plötzlich angeklagt – zur Antwort verpflichtet –, doch dann hörte ich Alonzos Stimme, die unten aus dem Wald dröhnte.
    » Es tut mir so leid! Können Sie mir helfen?«
    Das Seil wurde nicht mehr gezogen, und ich kletterte nicht mehr. Höchst ungeschickt hing ich in der Luft, meine Füße scharrten an die Turmmauer.
    Eine weitere Minute verging. Das Atmen hatte aufgehört. Dann ertönte von unten Alonzos Stimme, die vor Zerknirschung überfloss.
    » Tut mir sehr leid … Bin wohl eingeschlafen … wo geht es hier denn raus … verzeihen Sie, dass ich Ihnen so viel Mühe mache … eine wunderschöne Hochzeit, nicht wahr?«
    Er benutzte sein eigenes Rüstzeug – seine Größe, seine laute Stimme –, um ihn zu blenden. Mit jeder Beteuerung lotste er ihn weiter vom Haus weg, und seine Stimme wurde immer leiser und unverständlicher.
    Ich wartete: eine Minute, zwei. Dann stemmte ich die Füße wieder an die Mauer und ruckte am Seil.
    Seamus wartete oben – womit ich gerechnet hatte und wiederum überhaupt nicht gerechnet hatte –, und als er mich über den Rand zog, stieß ich den Atem vor Erleichterung aus wie eine Orgelpfeife.
    Ich stieg aus meinem Gurt. Stellte mich auf meine Füße und sah zum Himmel hinauf. Der Mond war fieberhell.
    Dass Clarissa nicht neben mir war, traf mich wie eine Wetterfront. Ich drehte mich um, und da stand Seamus, stumm wie zuvor, und wartete darauf, dass ich … etwas tat.
    »Alonzo«, sagte ich und griff nach meinem Handy.
    »Würde ich nicht machen«, sagte Seamus.
    Er hatte recht. Wenn Alonzo festgehalten wurde, war er der Allerletzte, den ich anrufen sollte.
    »Also gut«, sagte ich. »Kann ich mir Ihre Lampe borgen?«
    »Wenn Sie nicht überall in der Gegend herum leuchten.«
    Ich ging in die Hocke und lenkte den Lichtstrahl behutsam über die Plattform, sah Steine hervortreten und wieder in der Dunkelheit verschwinden. Keine wie von Zauberhand sich öffnende Tür. Kein mit altem Blut hingeschmierter Pfeil. Nur Schwärze. Und dahinter noch mehr Schwärze. Ich stand auf dem Dach eines der prächtigsten alten Häuser Englands und war dem Gesuchten nicht näher, als wenn ich mich auf der anderen Seite des Ozeans befunden hätte.
    »Da drüben«, sagte Seamus.
    Erfahrener Kletterer, der er war, hatte er eine Linie im Mörtel erspäht, die sich ein wenig von den anderen abhob, ein paar Stufen dunkler war als der Mörtel rechts und links davon.
    Durch Abnutzung nachgedunkelt, dachte ich sofort. Dunkler, weil jemand daran herumhantiert hatte.
    »Bisschen bröselig«, sagte Seamus und steckte den Zeigefin
ger in den Spalt. Er langte in seinen Rucksack und zog einen feinen, auf beiden Seiten schmerzhaft spitz zulaufenden Haken hervor. »Wollen doch mal sehen, was die alte Picke bringt.«
    Wenn ich noch die Kraft dazu besessen hätte, hätte ich gelacht. Aber er rammte den Haken bereits in den Mörtel, zog immer größere Klemmkeile und Felshaken aus seinem Sack und schlug sie mit einem Felshammer tiefer und tiefer, und der Mörtel flog bröckchenweise herunter, protestierte mit wehenden kleinen Staubwölkchen, und zu guter Letzt war nichts mehr zu sehen als der Stein selbst, der sich nackt darbot.
    Seamus wischte sich über die Stirn, legte den Keil hin und holte tief Luft. Er sah mich nicht einmal an, aber kaum hatte ich »Versuchen

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