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Algebra der Nacht

Algebra der Nacht

Titel: Algebra der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louis Bayard
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Gebäudes zugesetzt hatten, auch in seinem Innern gewirkt hatten, kam ich nicht. Dass der Sims unter mir viele Jahrhunderte darauf gewartet hatte, unter dem Gewicht eines Mannes nachzugeben.
    Und genau das geschah. Noch bevor ich ein Gebet stammeln oder protestieren konnte, ging es in entsetzlich freiem Fall mit mir abwärts.
    Bis ich, was sogar noch erschreckender war, plötzlich nicht mehr fiel. Das nach wie vor an Seamus' Rolle befestigte Seil zog an und riss meinen Rücken nach oben. Der Ruck pflanzte sich als Schockwelle durch mein Rückgrat fort, mein Magen schlug an
meine Brust, meine Beine baumelten im Leeren, und von unten ertönte das Krachen von Holz auf Stein … aber ich lebte.
     
    An dem, was als Nächstes geschah – gebe ich in Augenblicken, in denen ich nicht so freundlich gestimmt bin, meinem Vater die Schuld.
    Als ich acht Jahre alt war, teilte ich ihm mit, dass meine Freunde Isaac Shapiro und Hans Bjornen sich bei den Pfadfindern angemeldet hatten, ein unmissverständlicher Hinweis darauf, dass ich das auch tun wollte. Mein Vater rief mir ins Gedächtnis, dass ich bereits Baseball und Fußball spielte. Und mich dreimal in der Woche irgendwohin kutschieren, das war mehr, als ihm oder sonst einem Vater zugemutet werden konnte.
    »Du möchtest Pfadfinder werden?«, sagte er. »Gib eine von den beiden anderen Sachen auf. Und wenn du glaubst, dass ich den Gruppenführer mache, vergiss es.«
    So wurde ich nie Mitglied unserer Ortsgruppe. Und lernte ergo nie richtig, Knoten zu binden. Was wiederum zur Folge hatte, dass ich in dieser Nacht meinen Gurt mit einem, wie ich glaubte, stabilen Palstek am Seil befestigt hatte, wohingegen es nur ein verkehrt geknüpfter Halbschlag war. Oder eher ein Viertelschlag. Oder noch eher gar nichts, denn jetzt ging er auf .
    Ich glotzte blöde auf meine hektisch nestelnden Finger, die das Malheur reparieren wollten, aber der Rest von meinem Körper, meine Körpermasse , arbeitete gegen sie, und die Seilstränge rieselten mir wie Getreidekörner durch die kältestarren Hände. Und als mein Gehirn begriff, was los war, war es schon zu spät, und ich fiel abermals. Nur mit einem Unterschied: Nichts verband mich mehr mit der Welt über mir.
    Ich fiel lautlos, ungehindert. Aber trotz meines Entsetzens malte sich ein ruhiger Teil von mir aus, ich fiele geradewegs durch die Erde und hinaus in den Morgen.
    Keine Sekunde, und ich war eines Besseren belehrt, denn die Erde empfing mich mit der Glut eines Liebenden. Blitzender Schmerz zuckte durch alle meine Glieder. In mir brach eine ganz neue Dunkelheit auf und verschmolz mit der, die mich umgab.
    »Margaret«, flüsterte ich.
    Und dann verschlang die Nacht mich mit Haut und Haaren.

Isleworth, England

    Sommer 1603

    42
    E r gibt ihr einen eigenen Arbeitstisch. Stellt die Gerätschaften hin: die Waage, die Tiegel und Töpfe, die 26 Glasgefäße, alphabetisch sortiert, die Böden mit feuerfestem Ton abgedichtet. Blatt für Blatt legt er seine Notizen aus, zeigt ihr, wie viel Hitze oder Kälte er auf die Substanzen jeweils hat einwirken lassen. Schon zögerlicher zeigt er ihr, wo er das Experiment abgebrochen hat, welche Geheimnisse sich ihm gebeugt haben und welche ungelöst geblieben sind.
    »Die Schwierigkeit, Margaret, besteht meines Erachtens darin, die Verunreinigungen des Ausgangsstoffes zu beseitigen, im selben Atemzuge aber die Stoffe, die ihm natürlich anhaften, wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Das so entstehende Metall hätte zwangsläufig teil an der – der höchsten Vollkommenheit , die den Planeten und Sternen und Himmeln zu eigen ist …«
    Er würde noch weiterdozieren, kann aber den Lehrerton, in den er dabei verfällt, selbst nicht mehr hören. Und hieße es nicht das Schicksal herausfordern, spräche er über das, wonach der Alchemist eigentlich trachtet? Über den Stein der Weisen, der kraft seiner Vollkommenheit die Schöpfung selbst verwandeln könnte?
    Männer, so groß wie Aquin und Roger Bacon, haben sich vergeblich an diesem Stein abgearbeitet, und es geschieht nicht ohne große Skrupel, wenn er Margaret in ihre Reihe stellt. Er kann eigentlich nicht erwarten, dass es ihr – oder sonst wem – glückt, aber er kann ihr den Gang durch diese Tür jetzt nicht mehr ver
weigern, so wenig wie er ihn sich selbst verweigern könnte. Und so bleibt ihm an diesem ersten Tag nur noch, zu lächeln und zwei Schritte zurückzutreten.
    »Ruf einfach, wenn du irgendwas brauchst.«
    Und das ist seine letzte

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