Algebra der Nacht
umgedreht hätte, wäre meine Wahl möglicherweise auf ihn gefallen.
»Ach, jetzt guck nicht so, Henry. Ich hätte es dir früher sagen können, aber ich hatte keine hieb- und stichfesten Beweise. Erst als wir nach England kamen, konnte ich gezielter nachforschen. Und verstehen, wie wichtig es war, das Spiel mitzuspielen, solange es ging.
Aber du hast ja recht, Henry, wenn du dich betrogen fühlst. Ginge mir an deiner Stelle genauso. Trotzdem, sieh's mal von der anderen Seite. Du brauchst Clarissa jetzt nicht mehr zu beschützen. Das brauchtest du nie. Und darum können diese Barbaren dir nichts mehr anhaben. Wir genügen uns selbst , Henry. Wir können tun, was wir wollen.«
Styles räusperte sich.
»Da wäre noch die Kleinigkeit des Gesetzes, Alonzo. Vergessen Sie bitte nicht, dass Sie ein Betrüger und ein Dieb sind.«
»Und Sie, Bernard, sind ein Einbrecher und Terrorist und haben gerade ein Loch in eins der großartigsten Häuser Englands gesprengt. Aus Höflichkeit habe ich nicht erwähnt, dass Sie auch ein Mörder sind.«
»Er hat niemanden ungebracht«, sagte Clarissa und schlug die Augen nieder.
»Ohh!« Lächelnd sah Alonzo sie an. »Ist das die Täuschung, die Sie an Ihrem kleinen Busen hegen? Ihr Arbeitsgeber ist ein guter und ehrenwerter Mann? Lily und Amory könnten daran Anstoß nehmen.«
» Meine Güte.« Styles legte die Hände an die Wangen. »Sie können mich doch nicht ernsthaft für so kaltblütig halten, oder doch, Alonzo? Beweisen können Sie es jedenfalls nicht. Sich selbst vielleicht, aber anderen nicht.«
»Brauche ich doch nicht«, erwiderte Alonzo gleichmütig. »Das Einzige, was ich muss, ist, Ihren Blick genießen, wenn Henry und ich mitnehmen, was uns gehört.«
In Bernard Styles' Replik trat eine gewisse Schärfe.
»Mitnehmen, was Ihnen gehört? Das Dokument gehört mir, seit jeher.«
»Und das geistige Eigentum, das damit verbunden ist? Das ist doch lachhaft, wenn ich so sagen darf. Bevor ich kam, hatten Sie keine Ahnung, was Sie da in Händen halten.«
Styles lächelte schmallippig. »Und Sie haben keine Ahnung, was Sie in Ihren halten.«
» Es reicht!«
Die beiden Sammler blickten mich mit unverhohlenem Erstaunen an.
»Ich wünschte, ihr könntet sehen, wie lächerlich ihr ausseht«, sagte ich. »Beim Streit über eure kostbare Beute. Dürfte ich vorschlagen, dass ihr euren Fang erst mal inspiziert , bevor ihr weiterredet?«
Interessanterweise hatte es keiner von beiden eilig. Styles witterte vielleicht schlicht einen Trick. In Alonzos Fall war es diffiziler. Ich glaube, er hatte sich diesen Moment so lange ausgemalt, dass die Realität für ihn nur die Vollkommenheit des Bildes zerstören konnte.
Es blieb Clarissa überlassen, Halldor die Taschenlampe zu entreißen und gereizt zu sagen:
»Herr gott !«
Sie richtete den Lichtstrahl auf die Kiste, beugte sich darüber. Spähte hinein. Erhob sich wieder und wandte sich langsam um.
Und dann traten sie einer nach dem anderen näher: Alonzo, Styles, sogar Halldor. Immer dasselbe: bücken, aufrichten, nach Worten suchen.
»Ich …«
»Das ist …«
Und dann hörte ich zum ersten und zum letzten Mal in meinem Leben Halldor etwas sagen.
» Nein. «
Ich konnte es ihm nicht verdenken. Er blickte nicht auf Gold hinab, sondern auf die sterblichen Überreste eines Menschen. Der Schädel klaffte in spöttischem Gelächter, der rechte Arm war halb zum Gruß erhoben, beeinträchtigt nur durch das Feh
len der Hand. Derselben Hand, die mir zehn Minuten zuvor die Wange gestreichelt hatte.
»Sagen Sie Harriots Schatz guten Tag«, sagte ich.
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» S etzt euch«, sagte ich. »Ich erzähle euch eine Geschichte.«
Allerdings gab es für sie keine anderen Plätze als auf dem kalten Steinboden. Darum blieben sie stehen, und ich war der Einzige, der saß. Auf dem Deckel der alten Kiste, die prompt aufstöhnte, aber hielt.
»Thomas Harriot hat nie geheiratet«, sagte ich. »Aber er hat geliebt . Eine Frau namens Margaret Crookenshanks.«
Clarissa wandte sich zu mir um.
»Urkunden deuten darauf hin, dass sie im September 1603 starb«, sagte ich. »In St. Helen's Bishopsgate. Zwei Wochen nach ihrer Mutter. In Anbetracht von Zeit und Ort dürfen wir wohl annehmen, dass sie an der Pest gestorben ist. Harriot hat es irgendwie geschafft, ihren Leichnam hierher zu bekommen. Er hat sie in einem Teil von Syon House begraben, wo niemand sie finden konnte. An einer Stelle, die für ihn von besonderer Bedeutung war – und für
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