Algebra der Nacht
sie womöglich ebenfalls. Im Nordwestturm.«
Kein Geschichtenerzähler hätte von seinen Zuhörern ein befriedigenderes Schweigen erwarten können.
»Nun, die Zeit verging. Harriots Kummer nicht. Ich vermute, Trost fand er vor allem in einer Idee. Dass die Frau, die er liebte, eines Tages bekannt sein würde. Nicht seinen Zeitgenossen, denn die waren noch nicht so weit. Nein, er richtete seine Hoffnungen auf die Zukunft.
Natürlich, er hätte seine Trauer auch unverstellt bekunden kön
nen. Aber er tat es lieber so, wie er es am besten konnte – und vielleicht glaubte er sogar, das sei auch in ihrem Sinne –: verschlüsselt nämlich, gebrochen durch Zahlen und Buchstaben. So dass Gleichgestimmte erfuhren, was er fühlte. Alles , was er fühlte.«
Ein Ausdruck der Unleidlichkeit machte sich in Alonzo Wax' Gesicht breit.
»Alles, was recht ist – Harriot hat uns aber kein Totenbuch hinterlassen, Henry, sondern eine Karte. Und deutlicher hätte er nicht sein können. Gewalt'ge Lager Gold, von unvergleichlich Wert, Dort, es zu heben aus Virginiens Erd.«
»Ja, komisch. Eine gute Freundin von mir ist gerade die Gemeinderegister aus dem Jahr 1603 durchgegangen. Margaret Crookenshanks ist dort aufgeführt. Nur ihr Taufname war nicht Margaret. Der Name, auf den sie getauft wurde, war viel seltener, ein Name, den einzugestehen einem jungen Mädchen peinlich sein konnte. In Anbetracht der Konnotationen.«
Clarissas Lippen teilten sich, und der Name entwich ihr wie ein Atemhauch.
» Virginia. «
»Wie hätten«, fragte ich, »patriotische Eltern Elisabeth, die Jungfräuliche Königin, besser ehren können als dadurch, dass sie ihre kleine Tochter Virginia nannten?«
Ich stand jetzt. Blickte der Reihe nach in Augenpaare.
»Thomas Harriot hat in Syon House kein Gold vergraben. Sondern den Schatz, den er im Herzen trug. Und hier …« Ich wies mit dem Kopf auf das halbzerfallene Behältnis. » Hier ruht dieser Schatz.«
Mit schmerzlich langsamem Schritt kam Clarissa näher. Hob den Deckel der Kiste hoch und betrachtete das Skelett ein letztes Mal.
Und dann blitzte etwas in ihrem Auge auf. Sie griff hinein und zog einen langen Zylinder heraus, in antikes Leder gehüllt, jägergrün oxidiert.
»Zeig mal her!«, rief Alonzo.
Doch Clarissa schlang die Arme darum, als sei es direkt aus ihrem Schoß gekommen.
»Keine Sorge«, sagte ich. »Das ist kein Schatz. Zumindest keiner, wie du ihn suchst. Das ist ein Teleskop. Damit hat Harriot die Sterne beobachtet. Und den Mond.« »Und die Venus «, murmelte Clarissa, an niemanden speziell gerichtet. »Die Venusphasen.«
Ein tiefes Schweigen senkte sich über uns. Das Alonzo schließlich mit lautem traurigem Gelächter brach.
»Der Mistkerl!«
Zentimeterweise glitt er zu Boden, und abermals entrang sich ihm Gelächter, und er schlug die Hände vors Gesicht.
»Das also ist unser Lohn«, sagte er. »Nach alldem. Ein dämliches Fernglas und ein Sack voller Knochen.«
Er schlug die Hände zusammen wie ein Becken.
» Nun gut «, sagte er. »Kein Grund, den Glauben zu verlieren. Wir haben uns einfach irgendwo verirrt. Haben das blöde Ding falsch gedeutet.«
»Alonzo …«
»Ich persönlich hab es immer für einen Fehler gehalten, hierher zu kommen. Amory und ich waren auf der Strecke mit den Indianern schon gut vorangekommen. Wenn wir nicht abgelenkt worden wären, hätten wir – nein, im Ernst, es wäre bloß eine Frage der Zeit gewesen, bis –«
»Alonzo!«
Ich baute mich direkt vor seiner Nasenspitze auf und wartete ab, bis seine Augen mich wahrnahmen.
»Es ist vorbei«, sagte er.
»Schon, ja«, erklärte Bernard Styles. »Aber auch wieder nicht.«
Er beschrieb mit der Taschenlampe eine kleinen Halbkreis um uns und richtete den Strahl dann auf Alonzo.
»Ihr Unsinn von König Salomons Schatzkammern , das ist vorbei«, sagte er. » Damit ist jetzt Schluss. Und das ist auch gut so. Es gibt doch nichts Vulgäreres als eine Schatzsuche, schon immer meine Rede. Trotzdem bleibt noch die Kleinigkeit des Briefs, der mir gehört.«
Er streckte die Hand vor wie ein Tablett.
»Ich schlage vor, Sie geben ihn mir jetzt zurück, Alonzo, solange ich noch milde gestimmt bin. Er nützt Ihnen jetzt ja nichts mehr.«
Alonzo schwieg. Bernard Styles' Ton wurde noch milder.
»Schauen Sie, mon vieux . Ich bin bereit, über alles Geschehene hinwegzusehen. Ich weiß, wir hatten in der Vergangenheit unsere Differenzen, aber es gibt doch keinen Grund, die Dinge nicht wieder zu
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