Algebra der Nacht
zwar mit Leib und Seele.«
»Tja, dann solltest du gut schießen«, sagte sie. »Denn uns alle kriegst du nicht.«
»Kriege ich nicht?«
An der Stelle bekenne ich mich schuldig: Ich habe Alonzo Wax unterschätzt. Er leckte nicht nur seine Wunden, wie ich anfangs angenommen hatte, nein, er wartete auf seinen Moment. Wartete darauf, dass sein Häscher den Blick abwandte. Und da schleuderte er seinen provisorischen Verband auf Styles.
Die Strategie war besser als die Ausführung, denn der Umhang strich nur über Styles' Schläfe und landete auf seiner Schulter. Es war wohl das Blut, das ihm den Rest gab, Alonzos Blut, das ihm Haut, Kleidung und Haar beschmierte und ihn lange genug irritierte, dass Alonzo sich mit seinem ganzen massigen Leib auf ihn stürzen konnte.
Die Taschenlampe fiel zu Boden, Styles gleich hinterher, und zwar mit der Wucht eines gefällten Ahorn. Und obwohl Styles
rechte Hand eingeklemmt war, ließ er den Revolver nicht fahren und feuerte zwei schnelle Salven in die nächstbeste Wand. Für meinen lädierten Schädel nahm das Geräusch sich aus wie der Ruf der Hölle. Ich schlug die Hände auf die Ohren und wartete, bis das Getöse vorbei war, und als ich fast wieder zu mir gekommen, traf mich etwas in der Mitte, so schwer, dass es nicht zu leugnen war, und warf mich flach zu Boden.
Verdutzt blickte ich in die Pantheraugen Halldors. Und las darin, was mir blühte.
Denn als er seine Daumen auf meine Kehle drückte ( Außerordentlich, so ein Hals ), ließ er nicht die geringste Unsicherheit erkennen. Er würde mich töten. Und zwar auf dem schnellsten und, alles in allem, humansten Wege.
Er drückte mich zusammen, als habe er einen Blasebalg vor sich, und holte die letzten Sauerstoffvorräte aus mir heraus. Und als ich gerade dachte, ich hätte keine mehr, landete ein zweites Gewicht auf mir. Es war Clarissa, die Halldors Rücken und Schultern mit den Fäusten bearbeitete, sich in seine Haut krallte, ihn an den Haaren zog … aber ein kurzer Hieb seiner Faust nach hinten, und er hatte das Problem gelöst. Clarissa segelte davon, und ich sah sie im Halbdunkel neben mir auf den Boden sinken.
Halldor hatte jetzt beide Hände wieder frei. Er drückte zu , und mein Blut – ich war selbst überrascht – pochte nicht rasend vor Angst, sondern friedlich. Mein schon halb ausgelöschtes Gehirn erklärte mir den Vorgang:
So fühlt es sich an, Henry. Wenn man stirbt.
Und so wäre es wohl auch gekommen, wären nicht ein paar Grundfunktionen noch intakt gewesen. Denn wie sonst hätte ich mich auf das Messer besinnen können?
Alonzo hatte es mir bei der Hochzeit gegeben. Das Messer, das sogar jetzt noch in seinem Futteral an meiner rechten Seite steckte. Kein Rapier, aber auch kein schlechter Ersatz dafür. Leicht ranzukommen, hätte ich die Hände frei gehabt. Läge ich nicht rücklings auf dem kalten Stein.
Alle Kraft, die ich noch in mir hatte, sammelte sich jetzt in den Fingern meiner rechten Hand. Und jetzt krochen diese Finger
an meiner Hüfte nach unten … pausierten kurz am Oberschenkel … reckten sich der Scheide entgegen, die das Messer umgab … zogen das Messer Millimeter für Millimeter heraus …
Ich bekam es heraus, und dieser simple Akt flößte mir den Mut ein weiterzumachen. Es mit den Fingern zu umschließen und auf Halldors Oberschenkel auszurichten.
Ich hörte ihn ächzen. Sein Bein fuhr zurück. Ein paar Zentimeter, mehr nicht, aber es reichte, damit ich die Klinge herausziehen und weiter oben noch einmal zustechen konnte.
Und jetzt konnten Halldors obere Extremitäten den Tumult nicht mehr ignorieren, dem seine unteren ausgesetzt waren. Kaum merklich ließ der Griff seiner Finger nach, und noch immer verloschen die Lichter in mir. Ich hatte nur noch eine Chance. Und so stieß ich ihm das Messer mit aller Kraft, die ich noch in mir hatte, in den Unterleib.
Halldor heulte auf und riss seinen Oberkörper zurück. Und als seine Finger zurücksprangen, gab mir die einströmende Luft den letzten Antrieb, den ich brauchte, um das Messer noch einmal zu führen – direkt in seinen Solarplexus.
Es war zwar kein kräftiger Stoß, aber diesmal arbeitete die Schwerkraft zu meinen Gunsten. Je schneller das Leben aus Halldor wich, desto tiefer sank er auf die Klinge. Ich konnte nur noch zuschauen: dem feinen Blutstrom, der ihm von den Lippen rann, den Iris, die immer höher hinauf in die Augenhöhlen wanderten.
Er kämpfte bis zum Schluss. Seine mahlenden Zähne stießen stumme
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