Algebra der Nacht
bereinigen. Sie brauchen mir bloß zu geben, was mir gehört.«
»Ich habe ihn nicht«, sagte Alonzo.
»Natürlich haben Sie ihn.«
»Nein.«
»Alonzo«, sagte Styles mit betonter Langmut. »Sie haben mit Ihren Urteilen zwar schon einige Male bedenklich falsch gelegen, aber nicht mal Sie können so kriminell dumm gewesen sein und das Ding weggeworfen haben. Meine Geduld ist, wie Sie wissen, sehr groß, aber sie ist auch endlich. Soll ich vielleicht bis zehn zählen?«
»Sie können bis zehntausend zählen.«
Da standen sie, die beiden Streithähne, der eine im Licht, der andere im Schatten. Und wenn sich in der Zukunft einmal zwei Männer so hassen werden wie diese beiden in dem Moment, hoffe ich, dass ich nicht mehr lebe, um es mitanzusehen.
»Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie ungünstig das ist«, sagte Bernard Styles.
Auf ein kaum wahrnehmbares Nicken seinerseits hin änderte sich alles. Wie ein einem Dornengestrüpp entsprungener Panther stürzte Halldor sich auf Alonzo. Wand seinen langen Arm um Alonzos dicken Hals und zog mit dem anderen Arm eine lange makellose Klinge hervor.
In Ruh'stand setzen, mit einer Nadel bloß , dachte ich, aber mein Lachen erstarb gleich wieder, als ich den Blutstropfen sah, der aus Alonzos Hals quoll.
»Bernard«, sagte Clarissa gepresst. »Bitte.«
»Ich glaube, es war Alonzo, der sagte, ich könne ihm nichts anhaben. Ich bin nur bestrebt, seine Annahme zu korrigieren. Seinen Trugschluss .«
Beim zweiten Stich ging die Klinge tiefer und ließ ein Rinnsal Blut fließen, das Alonzo bis aufs Schlüsselbein rann.
»Außerordentlich, so ein Hals«, sagte Bernard Styles. »Stark und zerbrechlich zu etwa gleichen Teilen. Wenn wir der Evolution ihren Lauf lassen, daran glaube ich fest, werden Halsschlagader und Lüftröhre sich vernünftigerweise zwei, drei Zentimeter nach innen zurückziehen. Um weniger exponiert zu sein.«
Wie zur Veranschaulichung zog Halldor einen Kreis um besagtes Gebiet. Und inzwischen war das Blut kein Tröpfeln mehr.
»Jetzt sag dem Dreckskerl schon, wo er ist!«, rief ich.
Alonzos Brust hob sich schwellend. Ein Gurgeln entstieg seiner Kehle. Eine einzelne Träne rollte seine weiße Wange hinab. Doch der Blick in seinem Auge, der veränderte sich nicht.
Und ich hatte keine Möglichkeit, ihn zu retten. Ein Mucks von mir, und Halldors Klinge wäre in die Tiefe vorgestoßen.
»Ich weiß, wo der Brief ist!«, rief ich.
Styles' Kopf fuhr in meine Richtung.
»Ist das so, Mr. Cavendish? Wo?«
»In seinem Zimmer.«
» Welchem Zimmer?«
»In unserem Hotel. Dem Dragon's Tongue. Es ist das – verdammt, es ist das – Disraeli -Zimmer.«
Styles bedachte mich mit einem traurigen Lächeln.
»Nett von Ihnen, dass sie Alonzos Gedächtnis auf die Sprünge helfen wollen. Ich hoffe, Sie verstehen aber, dass ich es in einem Fall dieser Dringlichkeit aus erster Quelle hören muss.«
Der nächste Ratsch der Klinge, senkrecht nach unten. Das Blut zog sich jetzt wie Fingerfarbe über Alonzos Hals.
»Genau genommen«, sagte Bernard Styles in sinnierendem Ton, »bin ich gar nicht sicher, dass die Tötung eines amtlich Toten überhaupt einen Mord darstellt.«
Was nun folgte, scheint mir bis heute durch physikalische Gesetze unerklärbar. Den einen Moment stand Halldor wie zuvor, den Arm um Alonzo geworfen. Und im nächsten lag er auf den Knien – dann auf allen Vieren –, und sein Messer schlitterte ins Dunkel. Und da, wo er gestanden hatte, stand jetzt Clarissa und schwang Thomas Harriots Teleskop in seinem vom Alter hartgewordenen Futteral wie einen Knüppel.
Aus Halldors Griff befreit, kam Alonzo auf mich zu getaumelt. Ich riss mir meinen Earl-of-Essex-Umhang vom Leib und band ihn um seinen Hals.
»Gut festhalten, okay?«
»Mr. Cavendish.«
Bernard Styles hatte sich keinen Millimeter wegbewegt. Der einzige Unterschied war jetzt, dass er eine 38er Webley in der Hand hielt, auf ihre Art auch ein antikes Stück, aber für den modernen Gebrauch flottgemacht.
Mit der anderen Hand schwenkte er das Taschenlampenlicht auf uns und strahlte uns nacheinander an. Erst Alonzo … dann mich … und schließlich Clarissa, auf der er genießerisch verweilte.
»Ach, meine Liebe«, sagte er. »Da hat das Stockholm-Syndrom dich wohl böse erwischt. Zu viel Zeit beim Feind, vermute ich.«
Ihre Augen waren so kalt wie seine Pistole.
»Der Feind hatte recht, Bernard.«
»Der Feind hat niemals recht.«
»Du bist ein Killer.«
»Unsinn. Ich bin Geschäftsmann, und
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