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Algebra der Nacht

Algebra der Nacht

Titel: Algebra der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louis Bayard
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desto klarer erkannten wir darin die falsche Form von Publicity. Letztlich gingen wir die Meile bis Brentford zu Fuß, und nachdem Alonzo Seamus einen Hunderter in die Hand gedrückt (und ihm für später einiges mehr versprochen) hatte, führte er uns zum Hotel.
    Mit Wasserstoffperoxid und Heftpflaster aus meinem Rasierzeug versorgten wir Alonzos Hals, und Eis, das wir im Gastro-Pub mitgehen ließen, sollte das Pochen in meinem Kopf lindern.
Danach konnten wir uns nur noch auf unsere jeweiligen Zimmer zurückziehen.
    Auch nachdem ich vier Tabletten genommen hatte, wollte der Schlaf sich nicht einstellen. Ich lag auf dem harten Bett und betrachtete die Jalousie, hinter der sich das erste Sonnenlicht zeigte. Dann stand ich auf, duschte und buchte mit meiner einzigen funktionierenden Kreditkarte zwei Tickets für die 13-Uhr-Maschine der Virgin Atlantic nach Washington. Dann klopfte ich bei Alonzo an.
    Eine Stunde später waren wir unten und stocherten in Würstchen und gefüllten Tomaten herum. Ein ganzer Vormittag lag vor uns, und womit sollten wir ihn füllen? Mit Worten? Taten? Im Lichte dessen, was gerade geschehen war, wollte beides nicht recht passen. Und darum zogen wir unsere Mäntel an und brachen auf zu einem Spaziergang.
    Der Morgen war kalt und ungewöhnlich klar – vom Regen reingewaschen –, und jedes Mal, wenn der schneidende Wind mich traf, sehnte ich mich unweigerlich nach Hut und Putz des Earl of Essex, der luftundurchlässigen Wolle, mit der die Elisabethaner den Elementen entgegengetreten waren.
    »Man wird sie wohl finden«, sagte ich.
    »Unsere verstorbenen Freunde meinst du? Ich vermute, man hat sie schon gefunden.«
    »Ob wir uns Sorgen machen müssen?«
    »Ach.« Seine Mundwinkel fielen herab. »Bis die Polizei in die Gänge gekommen ist, sind wir längst weg.«
    »Aber man könnte uns ausliefern.«
    »Henry.«
    »Ich weiß nicht, es gibt doch Fasern. Fingerabdrücke …«
    »Bitte, wir sind nicht bei CSI . Hier sieht niemand in einem schattigen Zimmer verführerisch in ein Mikroskop. Uns passiert nichts.«
    Uns passiert nichts.
    Kein schlechtes Mantra, aber beim Anblick der Kew Bridge verlor es seine Beschwörungskraft. Ich konnte diese Brücke nicht überschreiten, ohne an Clarissa zu denken. Bibbernd in ihrem
roten Wollmantel. Die Lippen noch röter vom Wind. Die Erinnerung daran schmerzte wie eine Wunde.
    » Nicht ganz dicht «, murmelte ich.
    »Bitte?«
    »Das hat Clarissa mal gesagt. Und irgendwann hat sie gesagt, sie wäre noch nie in England gewesen, aber das kann nicht sein.«
    Alonzo sah mich fragend an.
    »Du bist ihr auf die Schliche gekommen, oder, Henry?«
    Ich legte die Hände aufs Brückengeländer.
    »Nicht mit empirischer Sicherheit. Es ist … sie kam da rein, zusammen mit Styles und Halldor, und sie war kein Opfer, sie war ein Gespenst , sie war – sie war wie eine Getriebene  …«
    »Und dazu hatte sie allen Grund. Ich begreife gar nicht, warum du nicht wütender bist.«
    »Ich weiß nicht«, sagte ich und lächelte verzagt. »Mit Sechsundvierzig ist man geneigt, über bestimmte Dinge hinwegzusehen. So unangenehm es auch ist.«
    Ein leiser werdendes Zischen kam aus Alonzos Mund, als er sich über dem Fluss aufpflanzte.
    »Ich wäre der Letzte, Henry, der dir sagen würde, was du zu fühlen hast, aber vergiss bitte nicht, dass sie uns von Anfang an getäuscht hat. Und uns benutzt hat. Und, auf die Gefahr hin, geschmacklos zu sein: sie war eine Komplizin bei Diebstahl und Mord.«
    »Oh. Genau genommen nein, Alonzo.«
    Er legte die Hände übereinander.
    »Und wie kommst du darauf?«
    »Weil Bernard Styles sich keinen Diebstahl hat zuschulden kommen lassen. Ermordet hat er auch niemanden. Zumindest nicht Lily Pentzler. Und vielleicht auch Amory nicht.«
    Ich blickte demonstrativ weiter in Richtung Westen.
    »Gestern Abend«, sagte ich, »hat Detective Acree angerufen.«
    »Der Polizist, von dem du schon gesprochen hast.«
    »Offenbar haben die sich die Bänder der Überwachungskamera an deinem alten Haus noch einmal angesehen und sind dabei auf etwas Interessantes gestoßen. Am Tag von Lilys Tod.«
    »Ach.«
    »Da ging jemand die Südosttreppe herauf, deutlich jünger als die Witwen, die in dem Gebäude wohnen. Und kräftiger.«
    Ich hielt kurz inne.
    »In einer bestimmten Einstellung ähnelt der Mann dir, Alonzo.«
    Ich mochte ihn jetzt nicht ansehen. Nicht einmal, wenn ich es gekonnt hätte.
    »Natürlich, sicher konnte Detective Acree nicht sein – er hat dich ja

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