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Algebra der Nacht

Algebra der Nacht

Titel: Algebra der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louis Bayard
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unerheblich, denn für Alonzo gab es keine Hilfe mehr. Er war untergegangen wie ein Meteorit; das zinngraue Wasser hatte sich um seine neueste Fracht geschlossen und trug sie ins Meer.

Teil Vier
    ˜
    O beredter, gerechter und mächtiger Tod! dem niemand über ist, du hast obsiegt; was keiner gewaget hat, hast du gewirkt; und dem die ganze Welt geschmeichelt hat, den hast du aus der Welt gestoßen und verächtlich gemacht. Du hast sie zusammengezogen, alle übersteigerte Größe, allen Stolz, Grausamkeit und menschliches Streben und über alles zwei knappe Wörter gebreitet: Hic jacet!

    Sir Walter Ralegh

    Vorwort, Historie of the World

Isleworth, England

    1603

    48
    H arriot ist bei Tagesanbruch auf. Er kleidet sich schnell an und eilt hinunter zum Landesteg von Syon und will sich ein Boot heranwinken. Aber er findet nicht einen Fährmann, der einwilligt, jetzt nach London zu fahren. Schon die Frage ist eine Beleidigung.
    »Für welche Summe fahren Sie mich?«
    »In dieser Richtung wartet der Tod .«
    Thomas Harriot ist an diesem Septembermorgen also genötigt, Folgendes zu tun: Er muss tief in die Tasche greifen, muss ein ganzes Fährboot kaufen, es besteigen, ohne dass jemand ihm hilft, und selbst flussabwärts rudern.
    Seine Aufgabe duldet keinen Aufschub, aber die Flut ist gegen ihn, und anstatt gegen sie anzukämpfen, bezwingt er sich und passt sich dem Rhythmus des Flusses an.
    Anderthalb Stunden später tauchen die Dächer von Westminster im Vormittagsnebel auf. All die altbekannten Ansichten ziehen in ihrer gewohnten Ordnung vorüber: die Abtei, die Sternkammer, das Tor von Whitehall, die marmorne Schwellung von Charing Cross. Harriot braucht über eine Minute, bis er begreift, was fehlt.
    Boote.
    Die Themse ist leer.
    Handelsschiffe, die flussabwärts fahren und Bauern, die flussaufwärts leben, meiden die Ansteckung, und so zieht Harriot seine Ruder wie damals in Virginia durch unbefahrene Gewässer und hört nichts als die Brandung, die gegen sein Boot schlägt.
    Niemand winkt von den Anlegestegen herüber. An der Treppe zum Old Swan entbietet nicht eine Fackel einen Willkommensgruß. Pferde sind nicht zu bekommen, nicht für Geld und gute Worte. Wenn Harriot St. Helen's Bishopsgate finden will, wird er sich zu Fuß aufmachen müssen.
    Er schaut auf seinen Kompass, zieht den Umhang fester um sich – die Luft ist noch kühl – und geht mit langen Schritten in die Fish Street hinein.
    Es ist kein Jahr her, dass Harriot zuletzt durch London gewandert ist, aber dies könnte eine ganz andere Stadt sein. Nicht eine Dirne lauert ihm auf. Feste und Versammlungen sind sämtlich abgesagt worden; in einem Radius von 50 Meilen dürfen keine Jahrmärkte abgehalten werden. Die Gasthäuser sind mit Brettern vernagelt, die Rathäuser liegen still. Keine Balladensänger, keine Ausrufer sind zu hören. Nicht einmal ein Hund bellt, denn die Stadtoberen halten die Hunde für die Haupterreger der Ansteckung und haben sie zu Tausenden töten lassen.
    Es ist gespenstisch, ist scheußlich, Wind in einer Londoner Straße zu hören. Wind, der heulend durch verlassene Häuser fährt, durch Gassen fegt. Wind und Kirchenglocken, die in bestimmten Abständen pünktlich von allen Pfarrkirchen ertönen und verkünden, dass immer mehr Seelen in den Himmel eingehen.
    Weiter und weiter geht er, um ihn herum Gespinste aus feuchter Luft, trinkt ab und zu aus einer Flasche mit Cidre aus Devon, bricht Walnüsse auf und wirft die Schalen hinter sich, hält nur inne, wenn ihm irgendetwas den Weg versperrt: ein verlassener Karren, ein totes Pferd, die Nüstern noch mit Raute zugestopft. Gleich hinter dem Cross Keys Inn wäre er beinahe über einen Schädel gestolpert, die Augenhöhlen fest gen Himmel gerichtet. Er eilt weiter und sieht den Oberschenkelknochen eines Menschen, in der Mitte gesplittert, das Mark ausgesaugt.
    Unweit der Kreuzung von Grace Street und Aldgate Street wankt ein Bettler an ihm vorbei. Der erste lebendige Mensch seit langem, dem Harriot begegnet – und auch ihn trennen nur wenige Schritte davon, Gebein zu werden.
    »Eine milde Gabe, Sir.«
    Doch als Harriot ihm einen Shilling anbietet, stolpert der Mann blicklos weiter.
    »Eine milde Gabe … eine milde Gabe …«
     
    Die Sonne hat ihren Zenit gerade überschritten, da erreicht Harriot mit schweren Beinen St. Helen's Bishopsgate. Hier läuten keine Kirchenglocken. Die parallelen Kirchenschiffe sind leer und dunkel, und Harriot will sich gerade auf eine Bank setzen

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