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Algebra der Nacht

Algebra der Nacht

Titel: Algebra der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louis Bayard
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und ein paar Minuten ausruhen, da sieht er einen Lichtkranz um die Tür zur Sakristei.
    Ein junger Vikar ist dort. Er hat die Ärmel aufgekrempelt, als schicke er sich an, die Weihrauchbecken zu polieren, die rings um ihn liegen, aber seine Hände ruhen müßig in seinem Schoß. Der Bart des Vikars ist lang, sein Chorhemd durchnässt und grau, und in seinen leeren Augen liegt ein wilder Ausdruck, der sich langsam verliert, als er eine andere Stimme vernimmt.
    »Crookenshanks?«
    »Das ist der Name.«
    »Bester Mann, sie ist schon seit vier Tagen begraben. Wir haben es dem Küster mitgeteilt.«
    »Ich weiß. Ihre Tochter hat mich gebeten, mich um ihre Habe zu kümmern.«
    »Die ist klein, das kann ich Ihnen versichern.«
    Mit zusammengekniffenem Mund betrachtet er Harriot.
    »Sie sind gerade in London eingetroffen?«
    »Heute Morgen eben.«
    »Dann werden Sie es mir nachsehen, wenn ich so offen zu Ihnen spreche, Sir. Wenn es dem Herrn bis jetzt gefiel, Sie zu schonen, wird Er wünschen, dass Sie diesen Ort sofort verlassen.«
    Und als habe er sich einer nicht hinnehmbaren Grobheit schuldig gemacht, fügt der Vikar hastig hinzu:
    »Obwohl ich erfreut bin über die Gesellschaft.«
    »Sie sind sehr gütig. Nicht anders als Er. Ich fürchte jedoch, dass meine Pflicht mich ruft und ich geheißen bin, ihr nachzukommen. Wenn Sie so gut wären und mir sagten, wo ich wohl Mrs. Crookenshanks' Haus finde …«
    Ein kleiner Zorn will aus den rotgeränderten Augen des Vikars hervorbrechen, bevor sie wieder dumpf einfallen.
    »Bevis Marks. Östlich der St. Mary Axe.«
    »Ich danke Ihnen.«
    Harriot will die Sakristei gerade verlassen, da vernimmt er die Stimme des Vikars, der ihm nachschickt:
    »Seien Sie so gut, und schließen Sie hinter sich die Tür. Ich bin nicht sicher, ob ich noch einen Besucher ertrage.«
     
    Es ist ein passendes Symbol dafür, wie die Verhältnisse sich umgekehrt haben. Die Londoner Mauer, von den Römern zur Abwehr von Fremden errichtet, erfüllt jetzt die Aufgabe, die Bewohner in der Stadt festzuhalten. Bevis Marks verläuft direkt südlich dieses Walls: ein kleines, vom Alter gezeichnetes Sträßchen, stellenweise nur wenige Fuß breit, mit Mansarden, die sich einander entgegenrecken wie trunkene Liebespaare. Und dennoch wäre dieser enge Gang an einem normalen Sommernachmittag voller Kinder, die Wasser von der Zisterne herantragen, und Frauen, die Töpfe ausleeren und Wäsche aufhängen, und Abtritträumer und Kutscher, Lederverkäufer und Rattenfänger, und hier und da ginge auch ein Jude mit gesenktem Kopf vorbei.
    Heute sitzt nur ein einziger Junge, nicht älter als acht oder neun Jahre, auf einer Decke, nackt bis auf das Hundsleder um seine Mitte und – ein Hauch von Häresie – das Christophorus-Medaillon um seinen Hals. Die Knochen unter seiner Haut sind wie Messer. Sein Mund ist ein von schwarzen Gaumen umgebener Krater.
    Harriot fischt eine Handvoll Shillinge heraus und wirft sie dem Jungen in die reglose Hand.
    »Crookenshanks?«
    Die Finger des Jungen schließen sich um die Münzen. Sein Kopf sinkt ein wenig nach hinten, als schlummere er ein.
    In Wirklichkeit ist es eine Geste. Und da, sechs Türen weiter Richtung Süden, steht ein dreistöckiges Haus mit eichenen Balken. Ausgedörrt und bröckelig, wie es ist, würde es ganz in seiner Umgebung untergehen, wäre da nicht das einen Fuß lange Kreuz in Kardinalsrot an der Tür. Und darüber der Anschlag.
     
    Herr, erbarme dich unser!
     
    Den Stuhl an die Tür gerückt, sitzt dort ein Mann in den Zwanzigern, ohne Schuhe, zottelig, mit unklaren Rechten ausgestattet wie ein Freisasse, der sich an seinen 50 Morgen weidet. Er ist ein Wächter. Einer der Männer, die im Auftrag des Bürgermeisters vor infizierten Häusern Wache halten und jeden verhaften, der zu fliehen versucht.
    Harriot duckt sich hinter ein Erkerfenster. Horcht sorgsam auf das Geräusch seines eigenen Atems.
    Handle nicht übereilt. Ein falscher Schritt, und es ist dein letzter.
    Nachdem er sich so selbst ermahnt hat, deutet er den Mann, den er gerade gesehen hat, als ein Hoffnungssymbol. Denn ein Wächter vergeudet seine Zeit nicht vor einem Haus voller Toter, oder? Es muss darin noch einen Lebenden geben.
    Und tatsächlich: als Harriot den Blick zu den mit Brettern zugenagelten Fenstern hebt, macht er ein mattes ockergelbes Licht aus, das wie eine Motte im Innern des Hauses gefangen ist.
    Sie ist hier. Margaret ist hier.
    Und sogar gegen diese Freude sträubt er sich. Denn

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