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Algebra der Nacht

Algebra der Nacht

Titel: Algebra der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louis Bayard
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sie verblasst vor der Unwahrscheinlichkeit, dass er sie je aus diesem Haus befreien kann.
    Es geht das Gerücht, Wächter seien bestechlich. Aber dieser hier ist groß und kräftig, man sieht ihm die Wildheit an den geblähten Nasenflügeln an, auch wenn er nur still dasitzt, neben sich eine übel aussehende Hellebarde, einen Haken, ein Beil und ein Bajonett, die alle miteinander darauf warten, jeden zu treffen, der sich ihm in den Weg stellt.
    Einer Hellebarde widerspricht man nicht, und selbst wenn ihr Besitzer empfänglich wäre für Zuwendungen, hat Harriot nur noch wenige Münzen im Beutel. Und sollte sich der Mann als grausam oder launisch erweisen, könnte es geschehen, dass Harriot in Eisen gelegt und nach Newgate gebracht wird und Margarets letzte Hoffnung auf Befreiung mitnimmt.
    Etwas anderes. Ein anderer Weg …
    Und hier übernimmt, zu seinem großen Verdruss, sein Leib die Regie. Zuerst die Augen: erspähen eine Lücke zwischen den Hausfassaden. Seine Beine: umsteigen Abtritte, leere Schuppen und tote Gärten. Seine Arme : schieben Stapel um Stapel ausrangiertes Leinen und Teller und Kerzenhalter beiseite – alles Dinge, die Lumpensammler schon längst fortgeschafft haben sollten – und bahnen ihm den Weg durch eine Gasse, die sich hier einst befand.
    Verblüfft zieht sein Gehirn nach und versteht, was sein übriger Leib tut: Er sucht nach einen anderen Zugang.
    Harriots Herz macht einen kleinen Hüpfer und zieht sich dann scharf zusammen. Denn als er sich der Rückseite des Crookenshanks-Hauses nähert, begreift er, dass hier nichts leichter ist. Es ist hinten Zoll für Zoll genauso unzugänglich wie vorn. Festes Holz. Schichten von Ton und Gips. Eine einzelne Tür, fest verschlossen. Bretterkreuze vor allen Fenstern.
    Die Handballen springen an sein Gesicht, pressen sich auf seine Schläfen. Und aus dem Durcheinander, das er vor Augen hat, tritt etwas hervor.
    Ein Fenster.
    Er sieht noch einmal hin
    Ja. Ja.
    In der Eile oder aus Versehen oder vielleicht sogar mit Absicht liegen über der unteren Hälfte des äußersten rechten Fensters im dritten Stock keine Bretter. Es misst keine sechs Fuß im Quadrat, ist aber ein Weg hinein . Oder heraus.
    Für einen Moment glaubt er, er könne zu ihr klettern. Aber so oft er springt und sich reckt, er findet an diesen Balken keinen Halt. Und wie machtlos und kindisch er sich vorkommt, als er sich an die öde Außenmauer wirft. Und nicht wagt, ihren Namen zu rufen. Nicht mehr vermag, als mit den Fäusten auf den Putz einzuhämmern.
    Er trommelt so fest, dass er sogar einen Brocken Mörtel abschlägt. Anfangs achtet er nur auf die entstandene Lücke. Er misst sie aus … probiert, den Fuß hinein zu setzen … überlegt, ob er sich vielleicht mit den Zehen daran festkrallen kann … und von
dort über einen anderen Vorsprung … das ganze Gebäude erklimmen.
    Dann fällt sein Blick auf den Mörtel, der zu seinen Füßen liegt. Er hebt den Brocken auf, wiegt ihn in der Hand. Wirft ihn dann an einer gedachten Linie entlang auf das Fenster zu.
    Der Brocken fällt einen Fußbreit davor wieder auf die Erde. Harriot hebt ihn auf, wirft ein zweites Mal. Und diesmal trifft er sein Ziel besser. Der dumpfe Ton, mit dem der Stein auf das Glas schlägt, scheint bis auf die Erde unter ihm nachzuhallen. Er wartet. Zehn Sekunden, zwanzig. Aber es kommt niemand gelaufen.
    Unerschrocken wirft er den Brocken zum dritten Mal. Und noch einmal. Gerade hebt er ihn zum fünften Mal auf, als ein Licht wie ein Ton aus der Dunkelheit heranschwebt und kleiner und dichter wird, je näher es dem Fenster kommt.
    Harriot hält den Atem an. Und in der nächsten Sekunde ist das bleiche Oval ihres Gesichts gegen das Glas gepresst.
    Es ist ein Gefühl, das er sich nicht hat vorstellen können: Sehen, dass sie ihn sieht.
    Im Nu sprechen seine Hände wie toll.
    Mach das Fenser auf. Mach das Fenster auf.
    Sie führt ihm das Hochschieben des unteren Teils vor, aber es ist eine langsame Vorführung, denn sie weiß, was er erst noch verstehen muss. Das Fenster ist von innen zugenagelt.
    Die Freude, die den Abstand zwischen ihnen überbrückte, erlischt mit einem Atemzug. Erschöpft drückt er die Hände an seine Stirn, schaut flehentlich.
    Im Gegenzug sieht sie ihn nur an. Erhebt dann einen Finger.
    Ihren rechten Zeigefinger, er ist geistesgegenwärtig genug, das zu registrieren. Sie hält den Finger erhoben, lässt ihn dann zu einer Seite fallen … bis er genau in die Richtung weist, aus der er

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