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Algebra der Nacht

Algebra der Nacht

Titel: Algebra der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louis Bayard
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irgendjemand hatte die Festplatte gelöscht.
    Clarissa sagte: »Wenn wir nach einem Dokument suchen, gibt es noch eine Stelle, wo wir nicht nachgesehen haben.«
    Sie brauchte gar nicht erst hinzuzeigen. Es war das Auffälligste in Alonzos Wohnung.
    Sein Büchertresor. Ein klimatisierter Bunker aus Stahlbeton mit einem Fassungsvermögen von gut zehn Kubikmetern, so massiv, als habe er als kompakter Klotz in Alonzos Wohnzimmer Schiffbruch erlitten. »Kennen Sie die Zahlenkombination?«, fragte Clarissa.
    »Wenn er sie nicht geändert hat.«
    Ich wollte mich gerade der Stahltür zuwenden, aber etwas am Rand meines Blickfelds irritierte mich. Unter Alonzos marmornem Beistelltisch lag eine schwarze Handtasche aus Krokodillederimitat, die mir genauso bekannt vorkam, wie das BlackBerry Pearl Smartphone darin. Beides gehörte Lilly. Mit dem Handy war sie praktisch verwachsen. Ich nahm es in die Hand und starrte auf das Mailbox-Symbol auf dem Display. Drei Nachrichten (eine davon vermutlich von mir) und Lily anscheinend nicht in der Lage, sie abzurufen.
    Als ich ihr BlackBerry in die Tasche steckte, kroch mir eine seltsame Taubheit in die Fingerspitzen.
    »Nicht überreagieren«, sagte ich mir. »Sie muss hier irgendwo sein.«
    Um den Tresor zu öffnen, brauchte ich sie sowieso nicht. Ich musste mich nur an George Chapmans Todesdatum erinnern – ein Datum, das ich einmal so gut gekannt hatte wie meinen eigenen Geburtstag – und die Zahlen eingeben. Schwieriger, als ich dachte. War er im Dezember gestorben?
    » Zwölf .«
    Und am wievielten?
    » Sechzehn .«
    Jetzt fehlte nur noch das Jahr. Meine Hände zitterten so sehr,
dass ich beide Hände brauchte, um die letzte Zahl einrasten zu lassen.
    » Eins … sechs … drei … vier … «
    Zuerst dachte ich, ich hätte mich falsch erinnert.
    Und dann erstrahlte im Dämmerlicht des fortgerückten Nachmittags … ein grünes Licht. Gefolgt von einem hohen Pfeifton.
    »Wow«, sagte Clarissa.
    Die Tresortür gab ein missgestimmtes Grummeln von sich. Clarissa und ich umfassten den Griff – ein leichtes Knistern, als unsere Hände sich streiften – und zogen gemeinsam.
    Ein Geräusch wie von Lippen, die sich von Haut lösen … ein Schwall kühler abgestandener Luft … und mit einem verliebten Seufzer schwang die Tür auf, und Lily Pentzler kam uns entgegen.
    Entrollte sich wie ein persischer Läufer und blieb dann reglos liegen. Der Hals taubenblau, die Lippen grün. Und das Gesicht – das starre Gesicht mit den geschwollenen Lidern – das Gesicht hatte ebenfalls eine ganz eigene Farbe.
    Azur blau, dachte ich mit einem eigenartigen Triumphgefühl.
    Mit aller Kraft rang ich das Lachen nieder, das in mir aufwallte. Clarissa besaß die Geistesgegenwart, über die Tote hinweg zu steigen – als sei sie wirklich nur ein Läufer –, einen Blick in den Tresorraum zu werfen und zu melden:
    »Die Bücher. Alonzos Bücher sind weg.«

 

    7
    I ch war bis dato noch nie jemandem begegnet, der August hieß, und dann lernte ich in der ersten Woche auf dem College gleich zwei kennen. Es dauerte siebenundzwanzig Jahre, bis mir an jenem Tag in Alonzos Wohnung der nächste über den Weg lief: August Acree – Detective August Acree vom Dezernat für Gewaltkriminalität. Er besaß eine kräftige Statur mit leichtem Fettansatz, und sein dandyhafter Schnurrbart hätte auf Humor schließen lassen können, wären da nicht die stahlharten Augen gewesen, streng und unerbittlich. Ein-, zweimal sah ich ihn lächeln. Aber geblinzelt hat er meines Wissens nie.
    Ein Polizeifotograf umkreiste Lilys Leiche; Mitarbeiter der Spurensicherung krochen in Alonzos Tresor herum, zwei Uniformierte standen ausdruckslos und gelangweilt vor der Wohnungstür.
    Draußen eine Phalanx von Polizeiautos und Reporter von zwei lokalen Nachrichtensendern. Und eine Schar beunruhigter Witwen: Alonzos Nachbarinnen, die sich fragten, wie in Northwest DC , wo man doch garantiert eines natürlichen Todes starb, so etwas Schlimmes passieren konnte.
    Detective Acree wusste es besser. Keine Rücksichtnahme, keine frommen Sprüche. Er behandelte den Tatort, als liege er in einer weitaus weniger feinen Gegend auf der anderen Seite des Anacostia River. Und seinem Blick nach zu urteilen hätte der Tresor auch ein Drogenlabor sein können.
    »Da sind Ventilatoren«, sagte er. »Zur Belüftung.«
    »Stimmt«, sagte ich.
    »Funktionieren die?«
    »Soweit ich weiß.«
    Er rückte sacht seine Krawatte zurecht. »Dann hätte diese Frau

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