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Algebra der Nacht

Algebra der Nacht

Titel: Algebra der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louis Bayard
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Visionen?«
    »Ich weiß nicht, ein Jahr? Vielleicht länger.«
    »Und haben Sie das … jede Nacht ?«
    »Ein- bis zweimal die Woche. Manchmal aber auch drei, vier Nächte hintereinander.«
    Sie senkte den Kopf, lächelte mich verlegen an und sagte:
    »Glauben Sie bitte nicht, dass ich mich aufspielen will, Henry, aber die Schule der Nacht? Die ist mein persönlicher Fluch.«
     
    Ihre Augen waren trocken und wachsam.
    »Sie sind skeptisch«, sagte sie.
    »Äh … ja. Ja … stimmt.«
    »Das wäre ich auch.« Sie nickte nachdenklich. »Sicher. Die Sache ist die, ob Sie mir glauben oder nicht, Alonzo ist etwas zugestoßen. Und jetzt, ob uns das gefällt oder nicht, sind wir miteinander verbunden. Sie und ich.«
    Sie legte die Gabel ab und faltete die Hände.
    »Da ist etwas Größeres im Gange. Das müssen Sie doch auch gespürt haben, Henry. Als Alonzo gestorben ist.«
    Ich spürte in dem Moment allerdings nur das Wabern in mei
nem Körper. Die Adrenalinwoge, die mein Herz zu neuem Leben erweckte und meine Pupillen erweiterte.
    Ich rang mühsam nach Luft und schob meinen Teller weg.
    »Wissen Sie was, Clarissa? Ich spüre nichts Größeres, dass da am Werk ist. Entschuldigung, aber diese Zeitreisevisionen? Für mich steht fest –«
    »Dass ich verrückt bin.«
    »Und noch was anderes. Ich bin nicht mit Ihnen verbunden. Überhaupt mit keinem. Und dafür bin ich in gewisser Weise dankbar. Gerade jetzt. Na schön, Alonzo? Ihm ist nichts zugestoßen , er hat es selbst getan. Wie das bei Selbstmördern eben ist. Da kann man nicht im Passiv reden, okay?«
    Jetzt schob sie ihren Teller beiseite.»Der Mann, den ich in St. Augustine kennengelernt habe, hätte sich niemals selbst umgebracht«, sagte sie. »Um nichts in der Welt.«
    Hinter meinen Ohren rann der Schweiß. Meine Augen schwankten in den Höhlen.
    »Sie wissen, dass ich recht habe, oder, Henry?«
    Ich schaute auf meine Uhr – zehn vor eins. Lily wartete wahrscheinlich schon auf mich.
    »Tut mir schrecklich leid«, murmelte ich und stand leicht wankend auf.
    »Was ist los?«
    »Ich muss zu Alonzos Wohnung.«
    Plötzlich war auch Clarissa auf den Beinen. Und stellte sich vor mich.
    »Ich komme mit«, sagte sie.
    »Oh …« Ich hob eine zitternde Hand. »Ach, wissen Sie, das würde sehr langweilig für Sie werden.«
    Aber sie winkte bereits nach unserem Kellner. Und als die Rechnung kam, zog sie sie aus dem glänzenden Kunstlederetui und erklärte übermütig:
    »Sie haben doch nichts dagegen, wenn ich Sie einlade?«
    Sie sah mich von der Seite an und fügte hinzu:
    »Sie sehen nicht aus wie jemand, den das stören würde.«
     
    Alonzos Wohnung hatte ursprünglich aus zwei Apartments bestanden, aber da die Gebäudeverwaltung bestechlich war, hatte er die Trennwand herausreißen dürfen und sich eine penthouseartige Zimmerflucht eingerichtet. Das Schlafzimmer lag nach Westen hinaus, darin standen ein Kleiderschrank und ein Himmelbett mit Ornamenten aus Akanthusblättern. Nach Osten: die Küche, aus Gleichgültigkeit unberührt. (Der Kühlschrank enthielt, wenn ich mich recht erinnerte, nur eine Flasche Champagner und ein Glas Senf.)
    Die Südseite nahm ein Balkon ein, der fast so breit wie die Wohnung war. Auf den trat ich jetzt hinaus. Unter mir schlummerte in der Hitze des frühen Nachmittags ein Innenhof mit müde plätscherndem Springbrunnen, daneben ein Spielplatz, wie üblich menschenleer, und eine Reihe Platanen, die so aussahen, als würden sie jedes Mal, wenn die Glocken der National Cathedral läuteten, Habachtstellung annehmen.
    »Ist Ihnen aufgefallen, wie kalt es hier ist?«
    Clarissa stand in der Tür und rieb sich die bloßen weißen Arme.
    »Zwanzig Grad«, erklärte ich. »Und zweiundfünfzig Prozent relative Luftfeuchtigkeit. Optimale Raumverhältnisse für Bücher.«
    »Und für hohe Stromrechnungen. Der Stromversorger muss unseren Alonzo geliebt haben.«
    »Wohl eher nicht«, sagte ich im Gedenken an den Stapel unbezahlter Pepco-Rechnungen, der in meiner Wohnung auf dem Boden lag.
    »Wissen Sie, Henry, es wäre hilfreich, wenn Sie mir sagen würden, wonach wir suchen.«
    »Nach einem Papier«, sagte ich.
    »Was für ein Papier?«
    »Ein Dokument.«
    »Alt? Neu?«
    »Alt, aber das spielt sowieso keine Rolle. Hier ist es ja offensichtlich nicht.«
    Clarissa runzelte die Stirn. »In dem Zimmer hinten habe ich
einen Laptop gesehen. Gehört der Alonzo? Vielleicht finden wir darauf einen Hinweis.«
    Aber das hätten wir uns sparen können. Denn

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