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Algebra der Nacht

Algebra der Nacht

Titel: Algebra der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louis Bayard
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ihn innehalten. Werden Geheimnisse nicht auf die gleiche Weise preisgegeben? Wurde Marlowe nicht Ende Mai ermordet, in des Frühlings schönster Pracht?
    Und Ralegh … hat er nicht besonderen Anlass, das Ende des Winters zu fürchten? Denn die Königin hat etwas getan, das ihr niemand so recht zugetraut hätte: Sie ist gestorben. Und aus dem Norden eilt ihr Nachfolger heran, und große Männer, die einst mit festen Füßen auf sicherem Grund standen, schwanken plötzlich. Männer wie Walter Ralegh.
    Ralegh und der neue König passen nicht zusammen, das weiß jeder. Jakob liebt den Frieden, Ralegh lebt für den Krieg. Jakob verabscheut Tabak, Ralegh treibt Handel damit. Jakob ist fromm, ein Gottesgelehrter. Und Ralegh … nun, jeder weiß , er kommt aus der Schule des Atheismus. Deren Leiter Thomas Harriot ist.
    So oder so, jene längst vergangenen Nächte in Sherborne können immer noch Schaden anrichten. Weshalb Raleghs Brief, der nur zwei Wochen nach dem Tod der Königin eintraf, eine große Überraschung war. Eine Beschwörung des Schicksals, gewürzt mit Folgendem:
     
    Ihr werdet verzeihen, denck ich, dass ich in dieser Weise zu Euch spreche. Ich wüsste keinen bessern Balsam für meine Wunden als die Erinnerung. In schweren Zeiten gewährt es große Freude, unsrer traulichen Schule zu gedencken, woselbst wir uns so frohgemuth versammleten …
     
    Harriot starrt auf diese Worte. Große Freude .
    Das Blatt ruht in seinen Händen: leicht, vergänglich. Er sollte es zerreißen. Sollte es verbrennen. In diesen Zeiten kann man nie wissen, wo überall Denunzianten lauern. König Jakob, Robert Cecil, Northumberland selbst … jeder sitzt im Zentrum eines fast unendlich großen Netzes, in dem sich Geheimnisse und Verbündete und Feinde verfangen.
    Harriot hält den Brief über die Kerze. Er sieht, wie sich die obere linke Ecke über der Flamme kräuselt.
    Er zieht den Brief zurück.
    Zu seiner Rechten eine kleine Bewegung. Sein Kopf fährt her
um, eine junge Frau in einem Gewand aus grobem grauen Tuch steht über seinen Arbeitstisch gebeugt und liest in seinen Papieren, ihr Gesicht starr vor Konzentration, indes ihre Lippen eine Silbe nach der anderen formen.
    Sie sind gekommen, genau wie er erwartet hatte. Suchen neue Gründe, ihn und seine Freunde an den Galgen zu bringen.
    Wie zur Bestätigung seines Verdachts blickt sie auf. Ertappt.
    Die Furcht in ihren Augen ist so groß wie die seine und doch von so ganz anderer Art, dass sein Gehirn die Szene eilends neu bewertet.
    Und schon geht sie – ihre Lederschuhe scharren über das Holz –, und er hört sich ihr verzweifelt nachrufen.
    » Können Sie lesen? «

Outer Banks, North Carolina

    September 2009

    12
    W ie Clarissa vorhergesagt hatte, fuhren wir kurz nach zwölf Uhr mittags über die Brücke der Route 158 auf die Outer Banks. An einem Sommerwochenende hätte uns die Brücke eine Stunde gekostet, aber es war der zweite Donnerstag im September, die Schule hatte begonnen, und mit den Kindern waren auch die Eltern verschwunden. Die Ladenzeilen und Wohnwagenstellplätze am South Croatan Highway sahen verwaist aus.
    In Nags Head fanden wir direkt am Strand ein Motel, das Pelican Arms, ein leicht chaotisch wirkendes Anwesen mit dünnen Wänden, kaputten Eismaschinen und leeren Getränkeautomaten und einer Schicht aus Zweigen und Bonbonpapieren auf dem Swimmingpool (außer Betrieb). Die einzigen anderen Bewohner, die wir entdecken konnten, waren Hunde – die der Hausordnung entsprechend alle unter 50 Pfund wogen –, Pekinesen und Zwergpudel, Langhaardackel und, höchst sonderbar, ein Zwergschnauzer, der uns ohne Begleitung und mit strenger Besitzerpose aus einem Aufzug entgegenstolzierte.
    Ich buchte zwei nebeneinander liegende Einzelzimmer, Clarissa las derweil in der Lobby ihre E-Mails. Noch keine Nachricht von Amory Swale, unserem schwer erreichbaren Buchhändler, also pilgerten wir, ausgehungert wie wir waren, erst einmal zum nächsten Five Guys. Der Anblick von Fleisch und Käse war seltsam aufmunternd, und ich machte mich gleich darüber her. Clarissa ebenfalls. Schließlich lehnten wir uns etwas verlegen zurück und wischten uns das Fett von den Händen.
    »Erzählen Sie mir von diesem Harriot«, sagte sie.
    Aufs Geratewohl fing ich an, und nach und nach drangen die Dinge, die ich einmal über ihn gewusst hatte – Dinge, von denen ich längst nicht mehr wusste, dass ich sie wusste –, an die Oberfläche. Und sprudelten noch aus mir hervor, als

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