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Algebra der Nacht

Algebra der Nacht

Titel: Algebra der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louis Bayard
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Rede erreicht sie erst nach einer Weile. Kann er wirklich meinen, sie soll die Messungen selbst vornehmen?
    »Meine Theorien halten erst dann stand, Margaret, wenn jemand anders dasselbe Ergebnis erzielt.«
    Sie nähert sich dem Tisch wie eine unerfahrene Hebamme, fürchtet sich vor ihren Händen. Hebt seinen halbrunden Winkelmesser auf. Richtet ihn auf die Lichtstrahlen aus. Ruft der Reihe nach die Namen der Winkel auf … FCD  … ECG  … Sie hört ihre Stimme, die trocken und schwerelos klingt:
    » Angelus refractus . Zehn Grad. Ich bitte um Verzeihung: elf Grad. Sollen wir sagen: achtundvierzig Minuten?«
    Eine gute Stunde später hat sich der fragende Ton in ihrer Stimme verloren. Wieder ein paar Nächte später geht ihr das Messen der Winkel so leicht von der Hand wie das Nähen einer Naht. Auf eine Art sogar leichter, denn wenn sie richtig misst, kann es nur ein Ergebnis geben.
    Der Mai geht ins Land, der Juni kommt, die festen Stoffe weichen flüssigen. Salzwasser, Terpentin, Alkoholgeist – jede Lösung
wird in ein hohles Glasprisma gegossen und im Winkel von 5 und 10 und 20 und 30 und 40 und 50 Grad mit Licht beschossen; mit jeder Veränderung des Eintrittswinkels geht eine entsprechende Veränderung des Brechungswinkels einher, jede Messung nehmen sie zweimal vor und halten sie dann in Tabellen fest.
    Die Berechnungen werden bis zum Schluss zurückgestellt, und auch hier verlangt der Meister, dass sie ihrer neuen Position gerecht wird, auch wenn das heißt, dass er mit ihr mathematische Grundlagen pauken muss.
    »Wie du vielleicht noch weißt, Margaret, ist der Sinus die Länge der Gegenkathete geteilt durch die Länge der Hypotenuse.«
    »Aber was ist die Gegenkathete, Sir?«
    »Na, die Seite gegenüber dem Winkel, den wir gerade betrachten. Letztlich sagt der Sinus uns, wie rasch dieser Winkel aufsteigt , wohingegen der Cosinus uns sagt, wie weit er lateral reicht. Eine ewige Spannung zwischen Aufstieg und Verlauf, kannst du mir folgen?«
    Nein. Zumindest nicht gleich. Aber dann, nach und nach, doch. Es sind keine jähen Offenbarungen, nur ein allmählicher Zuwachs an Sicherheit. Für sie ist es, als tauche sie in eine neblige Senke ein. Man sieht nichts mehr, die anderen Möglichkeiten sich zu orientieren fallen eine nach der anderen fort, man gelangt nur mit Hartnäckigkeit zur anderen Seite. Zur gegenüberliegenden Seite.
    »Außerordentlich, Margaret, nicht? In allen Fällen dasselbe Verhältnis zwischen Auftritt und Brechung. Suchte man nach … einem a-priori -Beweis für die Göttlichkeit der Existenz, man könnte es schlechter treffen.«
     
    Sie sind von neun Uhr abends bis vier Uhr früh zusammen, sind ausgesucht höflich zueinander, essen nur wenig, wechseln kaum ein Wort. Der Meister ist so an sein Alleinsein gewöhnt, dass er vorwiegend halblaute Selbstgespräche führt und auf die meisten Umgangsformen verzichtet. Und allnächtlich kommt ein Moment, wo er in höchster Unruhe wortlos aus dem Raum läuft, nur die nächstbeste Kerze mitnimmt.
    Margaret, die ihn gehen sieht, ängstigt sich um ihn. Was, wenn die Wachhunde ihn anfallen? Was, wenn der Aufseher des Guts ihn fälschlich für einen Wilderer hält? Aber Harriot wird bei seinen Gängen nie behelligt. Und kommt stets mit einer gesunden Farbe im Gesicht wieder und bringt ihr etwas mit: eine alte Wetterfahne, die Haut einer Ringelnatter, einen Eimer Regenwasser, in dem kleine Wassermolche zappeln. Eines Abends beschenkt er sie, rätselhaft lächelnd, mit einer Schweinsblase, die bis zum Äußersten gebläht ist.
    »Ich habe eine fast perfekte Kugel gefunden. Ich würde dich jetzt bitten, dir drei Linien zu denken, die von der Kugelmitte ausgehen und die Oberfläche an drei verschiedenen Punkten berühren. Wenn wir diese Punkte jetzt verbinden sollten, was für eine Figur würde sich zeigen?«
    »Ein Dreieck, Sir?«
    »Ja, aber von höchst beunruhigender Art. Von seinen Seiten hätte keine die Aussicht, gerade zu bleiben, so sehr sie es auch wollten. Sie würden vielmehr so aussehen.«
    Er skizziert es auf dem Papier.

    »Die Aufgabe besteht darin, zu ermitteln, welche Fläche ein solches Dreieck ergeben würde.«
    Nachdem er das Problem in Worte gefasst hat, wendet er sich anderen Dingen zu. Doch es lässt ihn nicht los. Es überfällt ihn im Laufe der nächsten Stunden immer wieder: als er etwas eingießt, einen Winkel misst, mitten in einem Gedankengang; es zieht alle Lebendigkeit aus seinen Augen.
    Dann, über dem Fluss

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