Algebra der Nacht
Festung innersten Bezirk.
Und sofort ist ihre Vergangenheit wieder lebendig.
»Habe ich schlecht gesprochen, Margaret?«
»Nein, Sir. Es ist nur das Gedicht. Astrophil und Stella . Das war …«
Sie schluckt.
»Das war immer eins meiner Lieblingsgedichte.«
»Dann findest du es doch sicher amüsant, dass wir nicht fern von Stellas Schwester wohnen.«
»Sir?«
»Hat dich denn niemand davon unterrichtet? Ja, dann …«
Sidneys Sonettzyklus, erklärt er, sei inspiriert von einer der großen Schönheiten ihrer Zeit, einer jungen Dame namens Penelope Devereux. Ihr Bruder war der zweite Earl of Essex, nicht einmal in der Schlacht, heißt es, habe der Earl so viele Männer niedergestreckt, wie es Penelopes dunkle Augen taten. Sie heiratete später Robert Rich – gegen ihren Willen, wie das Gerücht ging – und Sidney … nun, der heiratete Walsinghams Tochter. Doch stand Penelopes Bild ihm weiter hell vor Augen, und ihren Namen hatte er in den Monaten, in denen er im Sterben lag, ständig auf den Lippen.
»Das war nach der Schlacht von Zutphen, wo ihm der Oberschenkel durchbohrt wurde und wo er, was ihm zur großen Ehre gereicht, einem Untergebenen Wasser gab mit den Worten Du bedarfst seiner nötiger als ich. «
Margaret hat Harriot noch nie so lange oder mit so viel Gefühl sprechen hören.
»Aber wenn Penelope Stella war … wer war Stellas Schwester, Sir?«
» Dorothy Devereux. Nicht so schön wie Penelope, aber wesentlich intelligenter. Ihr Geist konnte es mit jedem Manne aufnehmen. Nachdem sie einen Ehemann schnell hinter sich gebracht hatte, willigte sie nach mühsamen Verhandlungen schließlich ein, Henry Percy zu heiraten. Und brachte ihm obendrein Syon House mit. Wo sie jetzt als Hausherrin schaltet und waltet.«
Seit sie hier arbeitet, hat Margaret Lady Percy vielleicht ein halbes Dutzend Mal gesehen. Stets von weitem, da sie mit Bediensteten so wenig in nähere Beziehung tritt wie ein maurischer Fürst. Und doch ist Margaret mit ihr verbunden – durch die Umstände ihres Dienstes.
Wenn man bedenkt, wie viele andere Wunder wohl zutage gebracht und in ihren Zusammenhang gerückt werden könnten. Manchen Nachmittag geht Margaret wie geblendet durchs Haus, als folge sie der Laterne des Ptolemäus.
Es sind die Gollivers, die sie auf die Erde zurückholen. Mehr als das heimchenartige Zirpen, mit dem der Alte mühsam die Stiege
erklimmt, ist dazu nicht nötig. Oder – direkt an sie persönlich adressiert – das Zischen, das Mrs. Gollivers Munde entströmt, wann immer ihre Wege sich kreuzen.
»Sssau.«
»Ssschlampe.«
»Ssschlange.«
Eines Nachmittags macht Mrs. Golliver, noch gereizter als sonst, den Fehler, mit einem harten Konsonanten fortzufahren.
» Schickse .«
Margaret fährt herum.
»Das möchte ich dem Herrn lieber nicht berichten.«
Es ist ein Bluff, weiter nichts. Aber als sie sieht, wie Mrs. Golliver angstvoll das Gesicht verzieht, greift sie zum ersten Mal nach ihrer neuen Macht. Nein, nach der Macht, die sie ohne ihr Wissen schon die ganze Zeit besaß.
»Vergib, Margaret … du hast mich falsch verstanden … ich würde nie …«
Von da an spricht die Alte in ihrem Beisein kein Wort mehr. Sie ist in der Defensive.
»Ha!«
Fast im Duett kratzen die Federn über zwei nebeneinanderliegende Blatt Papier. Die frische Luft strömt vom Fluss durch die offenen Fenster herein, und die Stille ist so tief, dass der Ausruf des Herrn sie trifft wie ein Schlag auf die Ohren.
»Sir?«
» Die Schule der Nacht. «
Er sieht sie nicht an, als er dies spricht. Erklärt auch nicht, was die Worte bedeuten. Aber der Ausdruck seiner Augen hat sich verändert, von einem träumerischen Schimmer zu frostiger Kühle.
»Margaret, würdest du mir freundlicherweise meinen Mantel holen?«
31
D ie Reisen, welche die verblichene Königin alle Jahre unternahm, bedeuteten für manchen Edlen den Ruin. Mit dem Tross der Höflinge und Bediensteten, der Reiter und Boten und Musiker, die alle untergebracht und verköstigt und mit Proviant versehen und unterhalten sein wollten, brauchte Elisabeth sich nur auf einem Anwesen niederzulassen, um dessen Besitzer in den Bankrott zu treiben.
König Jakob bleibt sich treu und reist, wie es den schwierigen Zeiten besser entspricht, schlicht und bescheiden. Er teilt bereits vorab mit, dass er nur eine Nacht in Syon House verbringen wird, und legt keinen Wert darauf, dass die Uhren ihm zu Ehren angehalten werden. Er entsagt allem Pomp und Prunk:
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