Algebra der Nacht
Umgebung, ganz im Dunkeln, und sie braucht ein Weilchen, bis sie ihn gefunden hat, denn er ist nicht im Laboratorium, sondern im Studierzimmer. Hockt zusammengesunken auf einem der harten Eichenstühle, die er am liebsten hat. Das Buch – die Sammlung der Essays von Montaigne, in dem er zweifellos die ganze Nacht zu lesen gedachte – liegt zugeklappt auf seinem Schoß.
Er sieht sie. Stammelt, erhebt sich halb, das Buch fällt zu Boden, er bückt sich danach, schießt wieder kerzengerade in die Höhe. Seine Fahrigkeit verrät ihn, aber mehr als alles andere ver
raten ihn seine Augen, die Art und Weise, wie ihr Bild auf sie trifft und gebrochen und aufgenommen und zurückgeworfen wird.
So also sieht die Liebe aus , denkt sie. Ganz und gar nicht, wie ich gemeint hätte .
London
September 2009
32
E s spricht nicht für die amerikanischen Sicherheitsbehörden, dass ein Toter am Abend des 23. Septembers 2009 ein Flugzeug nach London besteigen konnte.
Lassen Sie mich zur Verteidigung der Verkehrssicherheitsbehörden nur so viel sagen: Als er am Dulles International Airport eintraf, war aus Alonzo Wax Solomon Spiegel geworden. Und der befand sich mitten im Land der Lebenden, samt Sozialversicherungsnummer und einem Pass, der das bestätigte.
Bedenken Sie auch Folgendes: Alonzo sah sich selbst jetzt sogar noch weniger ähnlich, als das in den Outer Banks der Fall gewesen war. Sein Schwarzbrenner-Bart war weg, aber sein Haar, karamellbraun gefärbt, erhob sich nun in einer gegelten Tolle über seinen Kopf, und er steckte in einem Glencheck-Anzug von Big and Tall, zu dem er einen gestreiften Schlips von Van Heusen trug. Man hätte auf Agrarwirtschaft getippt.
Dieses Kunstwerk zwängte sich jetzt auf einen Gangplatz Reihe 58 in einem Airbus A340 von Virgin America mit Flugziel Heathrow. Alonzo lehnte Economy sonst prinzipiell ab, aber Clarissa hatte die Kosten für die Flugtickets übernommen, und da war nicht mal er so frech, Business Class zu verlangen. Erst recht nicht, nachdem Clarissa diejenige gewesen war, die bei der Polizei von Dare County, North Carolina, angerufen und den im Sand vergrabenen Toten gemeldet hatte.
Vielleicht hatte es ihr doch mehr abverlangt, als ich gedacht hatte, denn wir saßen kaum in der Maschine, da schluckte sie zwei
Schlaftabletten, stülpte sich die Kopfhörer über und schaute einen Sandra-Bullock-Film an, bis ihr die Augen zufielen. Ich breitete die Decke über sie und überlegte gerade, ob ich ihr eins der beiden kleinen Kissen unter den Kopf schieben sollte, als Alonzo auf meiner anderen Seite schnarrte:
» Lass das .«
» Was ?«
»Wenn du auch nur denkst , hübsch, wie sie da schläft, hau ich dir eine runter.«
Ich stellte die Rückenlehne meines Sitzes ein Stückchen schräger.
»Kein Mensch schläft so hübsch wie du, Alonzo.«
»Solomon«, zischte er. »Woher willst du das wissen?«
Da hatte er recht. Ich hatte ihn nie, jedenfalls soweit ich mich erinnerte, schlafen sehen. Ich war allerdings häufiger in seiner Gegenwart eingenickt, zuletzt in meinem Motelzimmer. Dasselbe war auch schon früher passiert, nach einer unserer blödsinnigen Akademiesitzungen. Ich wachte um zwölf Uhr mittags auf und sah, wie er mich beäugte, als sei ich ein falsch zugestelltes Paket.
»Denk mal strategisch«, sagte ich jetzt zu ihm. »Wir könnten Clarissa schick einkleiden und sie Du-weißt-schon-wen verführen lassen.«
Alonzo schob sich die Schlafbrille von Virgin Atlantic über. »Falls du Bernard Styles meinst, zieht der, glaub ich, den Typ große Männermörderin vor.«
»Was ist das nur mit dir und Styles?«
»Außer, dass er mir meine Bücher gestohlen hat? Und der Kleinigkeit, dass er mich tot sehen will?«
»Ich mein ja nur, mein Eindruck ist, dass Sammler im Allgemeinen besser miteinander auskommen als ihr beide.«
»Es macht mich ganz nervös, dass du immer von ihm als ›Sammler‹ sprichst. Ich erzähl dir mal, wie ich zum ersten Mal auf Du-weißt-schon-wen aufmerksam geworden bin. Ich war wegen einer Auktion bei Bloomsbury in London. Wie du weißt, sehe ich mir die Ware gewöhnlich schon am Vortag einmal an, sofern
das möglich ist. Nur war ich dieses Mal nicht allein. Die ganze Zeit schlich mir so ein junger Mensch hinterher – nein, Halunke wäre das mot juste . Drahtig, mit einem Dauergrinsen im Gesicht. Federnder Gang. Wie einer, der mal im Kabelfernsehen Zeug verhökert hat, aber eine Niete. Als Spion eine noch größere Niete. Wohin ich auch ging, er war
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